Theologe aus Utrecht erklärt Wilders Wahlerfolg

"Sein Feindbild ist bisher der Islam"  

Nach dem deutlichen Wahlergebnis für den Rechtsaußen Geert Wilders und seine islamfeindliche Partei feiern die Rechtspopulisten in Europa. Wie war sein Wahlerfolg möglich? Die Religion spielte ihm wohl nur indirekt in die Karten.

Rechtspopulist Gert Wilders könnte Premierminister der Niederlande werden  / © Aleksandar Furtula (dpa)
Rechtspopulist Gert Wilders könnte Premierminister der Niederlande werden / © Aleksandar Furtula ( dpa )

DOMRADIO.DE: Der Wahlausgang hat selbst Geert Wilders überrascht. War das Ergebnis in dieser Weise wirklich nicht absehbar?

Prof. Dr. Jan Loffeld (privat)
Prof. Dr. Jan Loffeld / ( privat )

Prof. Dr. Jan Loffeld (Priester des Bistums Münster und Professor für praktische Theologie an der Tilburg Universität in Utrecht): In dieser Deutlichkeit sicherlich nicht und es hat auch die Prognosen der letzten Wochen gesprengt. Allerdings gab es in diesem Jahr Anzeichen: Die "BoerBurgerBeweging" mit ihrer Spitzenkandidatin Caroline van der Plas, die 2019 erst gegründet wurde, ist aus dem Stand bei der Wahl zu den Provinzparlamenten im März 2023 stärkste Kraft geworden.

Sie steht in der Linie der in den letzten Jahren immer stärker gewordenen Bauernprosteste. Die Bauern sollten die Stickstoffemissionen senken und viele von ihnen gerieten aufgrund dieser Vorgabe aus Den Haag aber auch wegen europäischer Richtlinien in ernste Existenzsorgen.

Dahinter verbirgt sich die implizite Teilung des Landes in Ost und West. Im Westen, der sogenannten "Randstad" mit den Städten Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und Utrecht, wohnen die meisten wohlhabenden und kosmopolitisch orientierte Menschen.

Die eher ländlich geprägte Bevölkerung im Osten bekam immer mehr den Eindruck, für das Leben der urbanen Bevölkerung die Zeche zahlen zu müssen. Zugleich bekundete das ganze Land mit der Wahl im März, mit der neoliberal orientierte Regierungsführung des Kabinetts Rutte nicht mehr zufrieden zu sein. Der Rücktritt aufgrund der Frage nach dem Familiennachzug von Geflüchteten war da eher der Auslöser für den Abgang.

Die Frage ist jetzt, was mit diesem neoliberalen Erbe wird, das die gesamte Gesellschaft in den vergangenen Jahren immer grundständiger geprägt hat.

DOMRADIO.DE: Als Begründung für den Wahlsieg heißt es nicht nur in den Niederlanden, dass die Wähler die Nase voll von der bisherigen Politik hätten. Wie hat sich die Unzufriedenheit in der letzten Zeit bemerkbar gemacht?

Loffeld: An der A1, der Autobahn die durch das ganze Land führt, sind bereits seit Monaten zahllose niederländische Nationalflaggen "op de kop" – also umgekehrt aufgehängt. Das war zu Seefahrerzeiten das Zeichen für ein gekentertes Schiff.

Prof. Dr. Jan Loffeld

"Geert Wilders gibt, wie die Rechtspopulisten aller anderen Länder, darauf passgenau und vereinfachende Antworten."

Gleichzeitig hat im universitären Bereich eine angekündigte Regierungsvorschrift für große Unruhe gesorgt: Jedes Fach soll – auch – in Niederländisch doziert werden. Was für uns Deutsche selbstverständlich ist, ist hier anders. An unserer Universität studieren 112 Nationen, daher ist Englisch neben Niederländisch selbstverständliche Campussprache und man braucht als ausländischer Student nicht zwingend Niederländisch zu lernen.

Hinter dieser Debatte entdecke ich letztlich einen Identitätsdiskurs. Die Universitäten sind überfüllt; und man versucht, den Zufluss von ausländischen Studierenden über solche identitätsmotivierte Kriterien zu steuern. Hinzu kommt, dass in den oben benannten großen Städten – bis auf Utrecht – mittlerweile mehr nicht aus den Niederlanden stämmige Bürger wohnen als Niederländerinnen und Niederländer, sodass man auf den Straßen sicher genauso viel englische Gespräche mitbekommt wie niederländische.

Auch dies führt sicherlich dazu, dass sich vermehrt Menschen die Frage stellen, was denn zu den Niederlanden gehören soll und was nicht. Geert Wilders gibt, wie die Rechtspopulisten aller anderen Länder, darauf passgenau und vereinfachende Antworten.  

Geert Wilders, Vorsitzender der Partei für die Freiheit (PVV) / © Peter Dejong (dpa)
Geert Wilders, Vorsitzender der Partei für die Freiheit (PVV) / © Peter Dejong ( dpa )

DOMRADIO.DE: Die Niederlande sind eines der am stärksten säkularisierten Länder Europas. Die Religion ist weiter auf dem Rückzug als andernorts. Spielt das auch eine Rolle beim Wahlverhalten?

Loffeld: Dass die Niederlande säkularisierter ist als Deutschland, ist spätestens seit der Veröffentlichung der KMU (Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland, Anm. d. Red.) widerlegt, zumindest was den Gottesglauben angeht. In beiden Ländern glauben noch 20 Prozent der Bevölkerung an einen personalen Gott. In Deutschland muss man diese Realitäten allerdings unter anderem durch das Funktionieren der kirchlichen Institutionen noch nicht so stark als Existenzfrage wahrnehmen.

Religion kommt allerdings gerade in der urbanen "Randstad" (Metropolregion im Westen der Niederlande, Anm. d. Red.) vor allem als Islam vor. Wenn man sich als Christ outet, kommt sofort die Frage: "Auch gläubig?" Als ich einmal mit einer jungen einheimischen Studentin in Utrecht zufällig ins Gespräch kam, wusste sie nicht, was "Theologie" bedeutet. Als ich sagte: "Es hat mit Religion zu tun" antwortete sie spontan: "Ah, du bist Muslim."

Das Christentum kommt im normalen Leben junger Leute beinahe gar nicht mehr vor. Zugleich – und das zeigt die Komplexität – steigt die Zahl Erwachsener, die sich taufen lassen. Daher glaube ich nicht, dass Religion wahlentscheidend war. Denn, wenn es Extrempositionen gibt, sind diese absolut in der Minderheit.

DOMRADIO.DE: Setzt Geert Wilders auch auf Themen, die Christen und andere religiöse Gruppierungen interessieren?

Loffeld: Sein Feindbild ist bisher der Islam, denn dieser ist jung und am sichtbarsten. Allerdings hat er ja im Wahlkampf und in den ersten Ankündigungen auf das Verbot von islamischen Schulen, von Moscheen und des Korans verzichtet.

Ich weiß auch ehrlich gesagt nicht, wie dieses Land ganz praktisch weiter existieren soll, wenn es keine Migration gerade aus islamischen Ländern gäbe. An unserer Uni sind Muslime etwa sehr gut integriert, es gibt sogar Muslime, die bei uns Theologie studieren.

DOMRADIO.DE: Die Niederlande gelten als ein besonders liberales Land in ethischen, kulturellen und politischen Dingen. Wird sich das nun ändern?

Prof. Dr. Jan Loffeld

"Ich bin sehr gespannt, ob es dauerhaft zu einem Erschrecken über die Wahlergebnisse kommt."

Loffeld: Je länger ich in den Niederlanden lebe, desto mehr bin ich überzeugt, dass wir unser deutsches, unter anderem durch den Idealismus geprägtes Freiheitsverständnis nicht auf die Niederlande übertragen können. Hier herrscht eher ein ökonomisches und pragmatisches Freiheitsverständnis. Das Individuum ist – etwa von staatlichen Einflüssen – frei, um das Beste aus seinem Leben zu machen. Dabei geht in den Niederlanden Effektivität fast immer vor, sie schlägt im Zweifel auch allgemeine Prinzipien.

Ich bin sehr gespannt, ob es dauerhaft zu einem Erschrecken über die Wahlergebnisse kommt, wie es beispielsweise bei den Corona-Krawallen der Fall war. Da sagten sehr ernstzunehmende Stimmen: Das ist nicht mehr "ons land" (unser Land).

Auf Dauer wird sich die Frage nach dem Verhältnis von Toleranz und Identität als auch für Kultur zentral stellen. Und es kann sein, dass man in der Gewichtung anders als in Deutschland sehr schnell zu anderen, neuen, angepassten Lösungen kommt, je nach dem was gerade gefragt ist.

Was mich hoffen lässt, ist die Tatsache, dass sich langfristig in der Geschichte der Niederlande noch keine extremistischen Mehrheiten verfangen haben, weder von links noch von rechts. Die Nationalsozialisten haben es etwa seinerzeit versucht, sind aber unter anderem am gesunden niederländischen Pragmatismus gescheitert: "Hardlopers zijn doodlopers" lautet ein niederländisches Sprichwort. Das heißt so viel: wer es in eine Richtung übertreibt, läuft sich früher oder später tot.

Das gibt mir jetzt auch Hoffnung und kann unabhängig davon auch ein guter Rat an uns bisweilen sehr prinzipiell denkenden deutsche Nachbarn sein.

Die Fragen stellte Jan Hendrik Stens.

Wilders stößt auf Wahlsieg an

Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders hat am Donnerstag mit Gefolgsleuten auf seinen überraschend klaren Wahlsieg angestoßen. "Es hat geklappt", sagte er in Den Haag. "Wir haben 37 Sitze geholt, könnt ihr euch das vorstellen?"

Geert Wilders (r), Vorsitzender der Partei für die Freiheit (PVV), feiert mit seinen Parteimitgliedern / © Phil Nijhuis (dpa)
Geert Wilders (r), Vorsitzender der Partei für die Freiheit (PVV), feiert mit seinen Parteimitgliedern / © Phil Nijhuis ( dpa )
Quelle:
DR