"Blut in den Straßen, es reicht bis an meine Knie", sang Jim Morrison 1970 - der Vietnam-Krieg hatte gerade auf Kambodscha übergegriffen. In den letzten Tagen von 2016 und erst recht nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt macht die Zeile nachdenklich: Der Terror ist endgültig in Europa angekommen; Hetze nimmt zu, Politiker mit Vorlieben für den Tabubruch gewinnen Macht, Einfluss und Wahlen.
Der Rückblick auf ein Jahr, in dem der Mord an einer britischen Politikerin beinahe zur Randnotiz wird, muss düster ausfallen. "Ach ja, Jo Cox", fällt einem wieder ein, oder: "Die Polizistenmorde von Magnanville, das war ja auch noch." Der Spätherbst-Hype um Horrorclowns markiert da noch eine vergleichsweise entspannte Phase in einem Jahr, durch das sich ansonsten echter Horror zog - fast ohne Unterlass.
Übergriffe in Kölner Silvesternacht
2016 begann schon mit einem Paukenschlag. Der Name einer lebensbejahenden und weltoffenen Stadt wurde zur Chiffre: "Köln" steht seither nicht mehr nur für Dom, Karneval und den FC, sondern auch für eine Silvesternacht, in der zahlreiche Frauen zu Opfern sexueller Übergriffe wurden. Die Taten waren schlimm; dass bis heute nur wenige aufgeklärt werden konnten, ist es ebenfalls. Mit Blick auf die Aufnahme von Flüchtlingen und die "Willkommenskultur" von 2015 markierte der Jahreswechsel auch einen teilweisen Stimmungswechsel. Die Themen Sexismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dominieren seither viele Debatten.
Daran änderten auch die Bilder aus Idomeni kaum etwas, jenem griechischen Flüchtlingslager, das im Mai geräumt wurde. Kurz zuvor war die AfD in mehrere deutsche Landtage eingezogen. Wer sich weiterhin für gesellschaftlichen Zusammenhalt engagierte, musste mit Gegenwind rechnen. Im November gipfelte diese Stimmung in Hassbotschaften und Morddrohungen gegen den Bamberger Erzbischof Ludwig Schick - der lediglich geäußert hatte, dass auch ein muslimischer Bundespräsident in Deutschland denkbar wäre.
Terroranschläge weltweit
Brüssel, Orlando, Nizza - an diesen Orten schlugen Terroristen zwischen März und Juli zu. Im Sommer ereigneten sich auch in Deutschland mehrere Bluttaten: Terror in Ansbach, ein Amoklauf in München, eine Axt-Attacke bei Würzburg. Im französischen Rouen ermordeten Islamisten einen Priester während einer Messe. Der "Spiegel" beschrieb den Juli als einen "Monat so voller Heimsuchungen und Horrorszenarien wie die Bilder von Hieronymus Bosch".
In anderen Weltregionen bestimmt tägliche Gewalt längst den Alltag. Der "Islamische Staat" (IS), Boko Haram oder Al-Shabaab sorgen im Nahen Osten und in Afrika für Angst und Schrecken. Der Krieg in Syrien und im Irak will nicht enden.
"Postfaktisch" wurde es dann spätestens mit dem "Brexit"-Votum im EU-Land Großbritannien. Dass zwischen Irland und Nordirland demnächst tatsächlich die EU-Außengrenze verlaufen soll, bestürzte nicht nur die anderen Europäer, sondern auch die Briten selbst. Und sogar Boris Johnson, "der Mann, der die Briten in den Brexit blödelte" ("Die Welt"), wusste vor Verblüffung nichts Besseres, als erst mal Golf spielen zu gehen. Zur Belohnung ist er nun Außenminister.
Trump neuer US-Präsident
Und Journalisten und Wahlforscher täuschten sich auch danach noch einmal darüber hinweg, dass mit Unwahrheiten und vagen Versprechungen keine Wahl zu gewinnen seien. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Doch im November narrte Donald Trump mit Skandalen, allnächtlichen Tweets und dem Einsatz von Bots alle Wahrsager und lachte das Establishment einfach aus. Er wird jetzt US-Präsident und damit mächtigster Mann der Welt. Die politische Kultur und ihre Unkulturen wird das nachhaltig verändern.
Hetze in Internetforen: nicht wirklich neu zwar, wie kürzlich die Publizistin Mely Kiyak anmerkte. Seit Jahren würden Minderheiten beschimpft und angefeindet. Die Mehrheitsgesellschaft erkenne diesen Hass aber erst jetzt als echtes Problem, erklärte sie in einer vielbeachteten Rede. Ein Trost ist das noch nicht - zumal die jüngsten Taten von Freiburg, Ludwigshafen und Berlin diffuse Hassgefühle weiter verstärken werden.
2017 wird der "Summer of Love" 50; er war 1967 der Höhepunkt der Hippie-Bewegung. Blumen im Haar, Gitarren im Park: Nach einem halben Jahrhundert täte der Welt ein Revival der Liebe gar nicht so schlecht.