Taizé-Prior Frere Alois und EP-Präsident Pöttering im Gespräch

"Europas Versöhnung gerät in den Hintergrund"

Mehr als 40.000 Jugendliche wollen sich zum Jahreswechsel nach Brüssel aufmachen. In der EU-Hauptstadt findet dann das 31. Europäische Jugendtreffen der Gemeinschaft von Taizé statt. Taizé zählt zu den einflussreichsten spirituellen Bewegungen Europas. Aus Anlass des Treffens sprach Europaparlaments-Präsident Hans-Gert Pöttering im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur gemeinsam mit Taize-Prior Frere Alois über Europas Jugend, die Werte der Staatengemeinschaft, den Sonntag und warum Europa derzeit besonders in Afrika gefragt ist.

Autor/in:
Klaus Nelißen
 (DR)

KNA: Frere Alois, jedes Jahr besuchen Zehntausende Jugendliche Ihre Gemeinschaft in Taize. Viele kommen zu Ihnen, um Klarheit in wichtige Fragen ihres Lebens zu bringen. Wenn Sie wollten, könnten Sie eine Art Langzeitstudie über Europas Jugend machen. Welche Fragen bewegen die Jugendlichen im Moment am meisten?

Frere Alois: Vor allem die Frage: Wie kann ich Vertrauen und Hoffnung finden für das persönliche Leben, aber auch für unsere Gesellschaft? Zweifellos gibt es Zukunftsängste. Aber was Europa angeht, sehen wir auch, dass unter Jugendlichen so etwas wie ein europäisches Bewusstsein gewachsen ist. Daran müssen wir arbeiten, und das müssen wir stärken. Es gab die Jahre des großen Enthusiasmus, nach der Öffnung der Grenzen. Das ist zurückgegangen. Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, die Jugendlichen aus Mittel-, Ost- und Westeuropa zusammenzubringen.

KNA: Herr Pöttering, wie kam in Ihrer Jugend das Thema Europa in Ihr Leben? Gibt es eine Person, eine europäische Figur, die damals für Sie das Projekt Europa versinnbildlichte?

Pöttering: Das ist eine sehr persönliche Frage, weil es eine Persönlichkeit betrifft, die ich niemals gesehen habe: nämlich meinen eigenen Vater. Wir vermuten, dass er im März/April 1945, in den letzten Kriegstagen, auf dem Rückzug der deutschen Truppen aus dem früheren Ostdeutschland, dem jetzigen westlichen Polen, umgekommen ist. Ich wurde dann im September geboren. Mein Vater, der mir fehlte, hat mein Leben sehr stark geprägt. Das hat mich dazu geführt, mich für die europäische Einigung zu engagieren - weil die europäische Einigung im Kern ein Werk des Friedens ist. Heute, im Jahr 2008, reicht das für die Begründung der europäischen Einigung nicht mehr aus. Aber es war der Hauptgrund nach dem Zweiten Weltkrieg - die Versöhnung zwischen den Völkern Europas zu beginnen.
Ich glaube, dieses psychologische Element, meinen Vater nie gesehen zu haben, hat mich für diese Idee besonders aufgeschlossen gemacht.

KNA: Frere Alois, welche europäische Figur der Geschichte würden Sie gern hier an unserem Tisch dabeihaben wollen, wenn wir über Europa diskutieren?

Frere Alois: Da wäre zum Beispiel Robert Schuman - denn es sind Christen gewesen, die Europa wirklich vorangebracht haben. Sie haben aus dem Glauben heraus die Motivation gefunden, zur Versöhnung fähig zu sein. Dieser Aspekt der Versöhnung ist grundlegend für Europa, und er gerät heute manchmal etwas in den Hintergrund. Wir hoffen, dass wir durch das europäische Jugendtreffen am Jahresende diesen Aspekt der Versöhnung wieder stärker in den Vordergrund rücken können.

KNA: Woran machen Sie fest, dass das Thema Versöhnung im Moment vielleicht zu kurz kommt?

Frere Alois: Die ökonomischen Sorgen sind ganz stark in den Vordergrund getreten, und wir haben vergessen, dass die Wirtschaft von einer tieferen Basis lebt. Es gibt kein Wirtschaftswachstum ohne Ethik. Wir sind jetzt mit der Finanzkrise an einem ganz wichtigen Augenblick, an dem wir das neu entdecken können.

KNA: Herr Pöttering, 1993 sagte der damalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors: "Wenn es uns nicht in den nächsten zehn Jahren gelingt, Europa eine Seele, eine Spiritualität und Bedeutung zu geben, dann ist das Spiel aus." Ist das Spiel aus?

Pöttering: Nein, das Spiel ist nicht aus, weil wir stärker - und da stimme ich Bruder Alois ausdrücklich zu - wieder über die Werte reden müssen. Im Kern dieser Werte steht die Würde des einzelnen Menschen, unabhängig von seinem Herkommen, unabhängig von seinem Wohlstand oder von der Hautfarbe, unabhängig von der Nationalität.
Die Würde des Menschen gilt für alle, und das ist eigentlich im Kern auch ein sehr christlicher Gedanke.

Ich bin sehr glücklich darüber, dass es uns gelungen ist, mit dem Vertrag von Lissabon auch eine Grundrechtecharta für die Bürger der Europäischen Union zu verwirklichen, in der unsere fundamentalen Werte, auch die christlichen, verkörpert sind. Es muss weiter unser politisches Hauptanliegen sein, dass dieser Vertrag Wirklichkeit wird, damit sich diese Union auf Werte gründet; damit sie sich leiten lässt von den Prinzipien der Demokratie, des Rechts und auch der Solidarität. Und dass wir Europäer gemeinsam auf der Grundlage unserer Werte stark und handlungsfähig sind in der Welt.

KNA: Frere Alois, gibt es heute Zustände in Europa, mit denen sich Europa Ihrer Meinung nach versündigt? Wo Europa vielleicht hätte handeln können, aber nicht gehandelt hat?

Frere Alois: Ich sehe das vor allem in der Beziehung Europas zu den anderen Kontinenten. Ende November haben wir ein Jugendtreffen in Nairobi. Ich glaube, wir Europäer haben einfach zu viel unterlassen, zu oft die Augen zugemacht und ungute Entwicklungen einfach weiterlaufen lassen. Es ist entscheidend, dass es mehr Beziehungen gibt. Afrika ist für uns Europäer so nahe - und gleichzeitig so weit weg.

Pöttering: Ich möchte den Gedanken von Bruder Alois zu Afrika aufgreifen. Ich würde es für eine moralische und politische Niederlage Europas und der westlichen Welt verstehen, wenn wir jetzt bei der Bewältigung der Finanzkrise die Unterstützung für Afrika vernachlässigen würden. Kürzlich in Südafrika bin ich mit jungen Menschen zusammengekommen, von denen man mir sagte, dass 40 Prozent das Erwachsenenalter nicht erleben, weil sie Aids haben. Wenn wir davor unsere Augen verschließen; wenn wir unsere Hilfe dabei versagen, den Hunger und Epidemien zu bekämpfen, dann ist das eine moralische Anklage gegen jeden von uns.

Wenn es um die Weltfinanzkrise geht, dann sind Milliardenbeträge innerhalb kürzester Zeit verfügbar. Und es wäre eine nicht nur politische, sondern eine moralische Niederlage, wenn wir darüber die Not der Welt vergessen würden. Eine moralische, eine politische und natürlich - wenn Sie in Dimensionen von Sünde und Nichtsünde sprechen - im Kern auch eine sehr große christliche Aufgabe, hier engagiert zu bleiben.

KNA: Ein anderes Thema: der Sonntag. Darüber wird auf EU-Ebene im Rahmen der neuen Arbeitszeitrichtlinie diskutiert. Bruder Alois, in der Gaststätte von Taize gibt es einen angeschlossenen Laden. Hat der sonntags geöffnet?

Frere Alois: Ja, wenn die Jugendlichen abreisen, brauchen sie oft noch etwas für die Fahrt. Es ist notwendig, dass sie das auch bekommen können.

KNA: Offene Geschäfte und der Sonntag: Wie geht das zusammen?

Frere Alois: Das ist eine wichtige Frage. Aber letztlich geht es nicht nur um einzelne Stunden oder Zeiten. In Frankreich gab es immer den Bäcker, der sonntagmorgens aufhatte, auch als das Land noch völlig christlich geprägt war. In vielen dörflichen Gegenden verschiedener Länder gab es sonntags den Markt. Es geht nicht um Stunden hier und da, sondern es geht um die fundamentale Frage nach dem Zur-Ruhe-Kommen. Wir werden ärmer an Menschlichkeit, wenn es diese Unterbrechungen in der Arbeitswelt und im Alltagsstress nicht mehr gibt. Dann laufen wir Gefahr, dass Menschlichkeit verloren geht; dass wir noch mehr dramatischere Situationen haben, was etwa unsere Familien oder Ausgrenzungen in der Gesellschaft betrifft.

KNA: Herr Pöttering, gibt es so etwas wie ein gemeinsames europäisches Sonntagskulturgut?

Pöttering: Es gibt sicher Differenzierungen. Aber Bruder Alois hat Recht, wenn er sagt, die Menschen müssten zur Besinnung kommen. Wenn ich es an meinem ganz persönlichen Beispiel als Präsident des Europäischen Parlaments sagen darf, habe ich Verpflichtungen, bei denen ich für einen Termin gleichzeitig zwei, drei andere wahrnehmen sollte. Das geht beinahe rund um die Uhr; man gönnt mir schon einige Stunden Schlaf, aber es geht auch rund um das Wochenende. Es ist nicht gut für die Politik, wenn Politiker ständig wochenlang, auch ohne Unterbrechung an den Wochenenden, engagiert sind. Man braucht Phasen der Besinnung; man braucht Phasen der Ruhe; man braucht Phasen des Nachdenkens. Das würde am Ende auch der Politik gut tun.

KNA: Ist es wichtig, den Sonntag in der Arbeitszeitrichtlinie europaweit festzuschreiben? EU-Ratspräsident Nicolas Sarkozy hat beispielsweise schon mehrfach öffentlich von seinen Parlamentariern gefordert, den Verkauf freizugeben.

Pöttering: Ich bin sehr dafür, dass die EU-Mitgliedstaaten auch einen Spielraum für eigene Entscheidungen bewahren. Es muss nicht alles harmonisiert werden. Aber ich werbe dafür, dass wir den Sonntag heiligen in dem Sinn, dass wir den Menschen die Chance zur Besinnung geben, damit sie aus dieser Besinnung Stärke gewinnen und stark sind in der Woche, die folgt.

KNA: Zum Schluss noch eine letzte, bei Jugendlichen beliebte "Was wäre wenn?"-Frage: Wenn wir eine Zeitmaschine hätten und Sie in ein Kapitel der Geschichte Europa reisen könnten: Wohin würden Sie gerne ein kleines Rädchen der Geschichte drehen?

Frere Alois: Ich würde nicht zu weit zurückreisen, sondern noch einmal in die Zeit vor dem Mauerfall zurückwollen. Nicht um ein Rädchen anders zu drehen, sondern um besser zu verstehen, was damals eigentlich geschehen ist. Was hat eigentlich bewirkt, dass ein Ereignis stattgefunden hat, das niemand erwartet hat; das noch ein halbes Jahr vorher niemand erträumt und das die Welt völlig verändert hat? Welche Mächte sind denn in der Geschichte wirklich maßgebend und bewirken etwas?

Pöttering: Es gibt keine Zeitmaschine, und wir können uns auch nicht zurückversetzen in eine Zeit, ob sie uns ansprechend erscheint oder eher abstoßend. Wir leben heute. Und es ist unsere Pflicht als Politiker, als Menschen, die Gegenwart sinnvoll zu gestalten. Das heißt, dass wir uns einsetzen für unsere europäischen Werte in der Gegenwart, damit sie auch ihre Wirkungskraft gestalten und entfalten in der Zukunft.