Syrischer Großmufti in Sorge um Frieden zwischen Religionsgemeinschaften

"Niemand darf mit Religion und Politik spielen"

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen sind in Syrien seit Beginn der regierungsfeindlichen Proteste mehr als 3500 Menschen gewaltsam ums Leben gekommen. Mit Sorge beobachtet Großmufti Ahmad Badr Al-Din Hassoun die Krise seiner Heimat.

 (DR)

KNA: Scheich Hassoun, was geschieht derzeit in Syrien?

Hassoun: Was wir in Syrien erleben, können wir auch in anderen Teilen der Welt beobachten. Das Leben verändert sich. Einst abgelegene Dörfer wandeln sich in kleine Städte, Städte in Metropolen, die Menschen in aller Welt nehmen miteinander Kontakt auf. Viele Regierungschefs und Politiker haben die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Sie verstehen das Streben, die Wünsche der Bevölkerung nicht. Weltweit beobachten wir einen wirtschaftlichen und moralischen Zusammenbruch. Extremistische Kräfte wollen die Staaten und Gesellschaften nach religiösen Maßstäben verändern, auch hier in Syrien. Wir erleben einen Kampf zwischen Menschen, die Veränderungen, wirtschaftliche Entwicklung und Freiheit wollen, und einer Führung, die 40 Jahre geherrscht hat und nicht in der Lage war, sich den Entwicklungen anzupassen.



KNA: Präsident Baschar al Assad hat einen nationalen Dialog angeboten, aber nicht alle Kräfte der Opposition wollen mit der Regierung sprechen. Warum nicht?

Hassoun: Hätte man die Syrer in Ruhe gelassen, würden sie wohl längst an einem Tisch sitzen. Doch inzwischen gibt es oppositionelle Gruppen, die mit anderen Staaten verbunden sind. Wir haben eine interne und eine externe Opposition. Es gibt alte Konflikte mit den Muslimbrüdern, von denen viele im Exil in Europa leben. Ich habe sie gebeten, nach Syrien zu kommen, um einen Dialog aufzunehmen. Aber sie wollen erst zurückkehren, wenn das Regime gestürzt ist. Wollen sie einen islamischen Staat, einen säkularen oder zivilen Staat?

Darüber muss man reden. Wenn das bekannt ist, können sich die Menschen entscheiden und sie wählen oder eben nicht. Im Ausland zu sitzen und einen Einsatz der NATO in die internen Konflikte Syriens zu fordern, ist kein Dialog, sondern eher eine Kriegserklärung.



KNA: Wohin treibt Syrien, wenn die Akteure nicht miteinander sprechen?

Hassoun: Ich fürchte, es gibt Interessen - ich nenne es eine "dritte Seite"-, die unser Land ins Chaos stürzen will.



KNA: Wen meinen Sie?

Hassoun: Die Vertreter des Finanzkapitals, die Rüstungskonzerne, Grundstücks- und Bodenspekulanten und religiöse Extremisten. Sie sind die Brandstifter der weltweiten Kriege, sie denken nur an sich selbst. Ich fand sie in Deutschland, in Amerika und hier in Syrien.  Wir haben in Libyen, Jemen, Somalia gesehen, was sie tun. Niemand darf mit Religion und Politik spielen. Religion ist eine Sache zwischen Mensch und Gott. Politik ist eine Sache der Menschen untereinander.



KNA: Sie befürchten eine Spaltung Syriens, um einen religiösen Staat zu errichten?

Hassoun: Die aktuelle Gefahr ist, dass die Menschen hier plötzlich

sagen: Wir haben eine alevitische Regierung, aber die Sunniten sind die Mehrheit. Ja, Präsident Assad ist Alevit, doch seine Frau ist eine Sunnitin aus Homs. Wir haben nie darüber nachgedacht, ob jemand Christ, Alevit oder Muslim ist. Jeder Bürger unseres Staates ist zuerst Syrer. In jedem Ausweis steht "Syrer", keine Religionszugehörigkeit.



KNA: Mit Blick auf Homs sagen viele, dass es dort keinen Kampf zwischen der Opposition und dem Regime gebe, sondern zwischen Aleviten und Sunniten. Und kürzlich forderte das Europaparlament die syrische Regierung ausdrücklich auf, die Christen zu schützen. Ist das syrische Mosaik der Religionen in Gefahr?

Hassoun: Wenn Europa Syrien in Ruhe lässt, ist dieses wunderbare Mosaik sicher. Es wird Angst zwischen den Menschen geschürt. Wir haben hier in Syrien Familien, in denen es Christen, Muslime, Aleviten gibt. Wir sind alle miteinander verwandt. Als man mich einmal im Europaparlament fragte, wie viele Muslime es in Syrien gibt, sagte ich 23 Millionen. Gut, und wie viele Christen? 23 Millionen. Wie viele Kurden? Ich antwortete 23 Millionen. Und wie viele Araber gibt es? 23 Millionen. Gibt es dann 90 Millionen Menschen in Syrien? Nein, sagte ich, Sie haben mich nicht nach der Anzahl der Staatsbürger in Syrien gefragt: Wir sind 23 Millionen. Und als Mufti bin ich nicht nur der Mufti der Muslime, ich bin für alle 23 Millionen Syrer da. Die Konzepte, mit denen uns der Westen konfrontiert, werden dieses Zusammenleben zerstören. Und ihre Absicht wird unterstützt durch Fehler des Regimes.



KNA: Syrien ist ein säkularer Staat. Gleichwohl ist Religion allgegenwärtig...

Hassoun: Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Aber wer hat gesagt, dass in einem säkularen Staat kein Raum für Religion ist? Als in Frankreich ein Gesetz gegen den Schleier erlassen wurde, haben wir es kritisiert. Es ist nicht Sache des Staates, ob eine Frau Shorts trägt oder einen Schleier. Wenn Sie durch Damaskus spazieren, hören sie an einer Ecke den Ruf des Muezzin, und wenige hundert Meter weiter ist ein Nachtclub. Es gibt Kirchen, und es gibt Menschen, die nie beten. Die Menschen können wählen. Darin unterscheiden wir uns von dem europäischen Verständnis von Säkularismus.



KNA: In internationalen Medien wurden Sie mit der Aussage zitiert, dass Syrer im Falle eines Angriffs auf Syrien als Selbstmordattentäter europäische Staaten angreifen könnten.

Hassoun: Ich habe gesagt, sollte die NATO Syrien mit Raketen überschütten, könnte das dazu führen, dass Menschen auf solche Gedanken kommen könnten. Sie könnten sich überlegen, in jenes Land zu gehen, das Raketen auf Syrer abfeuert - um dort die Fabriken zu zerstören, in denen diese Raketen hergestellt werden. Es geht nicht darum, noch mehr Menschen zu töten. Aber stellen Sie sich vor, jemand greift Deutschland mit Raketen an. Was würden Sie tun? Auf weitere Raketen warten? Sie würden doch wohl alles tun, um sie abzuwehren.



Das Gespräch führte Karin Leukefeld.