Süssmuth mahnt Entscheidungen zu legaler Einwanderung an

Aufschub nicht gestattet

Deutschland darf sich laut der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth nicht länger vor der legalen Einwanderung verschließen. Die deutsche Bevölkerung sei bereit zu helfen, sie brauche aber Orientierung.

Azubi aus Vietnam (dpa)
Azubi aus Vietnam / ( dpa )

domradio.de: Vor 15 Jahren sollte schon einmal ein umfassendes Einwanderungsgesetz auf den Weg gebracht werden, an dem Sie maßgeblich mitgewirkt haben. Warum ist es damals gescheitert?

Süssmuth: Damals ist es abgelehnt worden, weil die Aussage lautete: Wir sind A) kein Einwanderungsland und B) bei uns sind schon so viele Flüchtlinge. Sie erinnern sich an Anfang der 1990er Jahre mit 450.000 Begehren auf Asyl und Einwanderung. Es wurde gesagt, wir können nicht noch mehr!

domradio.de: Käme nicht ein Einwanderungsgesetz Deutschlands Wirtschaft zu Gute? Es gibt ja viele in der Wirtschaft, die dafür plädieren und jeder, der hier länger lebt, möchte doch niemandem auf der Tasche liegen, sondern selber anpacken?

Süssmuth: Kennzeichnend für die ankommenden Flüchtlinge ist am Beispiel der Syrer: schnell Deutsch lernen, schnell eine Arbeit finden und auf eigenen Füßen stehen. Wir stehen heute vor dem Problem, was wir eigentlich noch nicht diskutieren wollten: Wie lösen wir die Probleme einer legalen Einwanderung aus den bedrängten Ländern und wie werden wir besser fertig mit der wachsenden Zahl der Asylsuchenden?

Das ist nicht nur eine deutsche Problemlage, sondern eine europäische. Wir brauchen einen anderen Schlüssel zur Verteilung auf europäischer Ebene. Die Verpflichtung aller EU-Mitglieder Flüchtlinge aufzunehmen. Für unser eigenes Land ist ganz wichtig: Wie bringen wir die Angekommenen so in unserem Land unter, dass sie in Arbeit sind, dass sie eine Wohnung haben und hier eine Existenz aufbauen können.

Ohne dass wir jetzt in dieser Lage Kurzschlüsse machen - aber beschleunigte Verfahren, Hilfe für die Kommunen, die es alleine nicht schaffen können und eine neue Europapolitik in der Migrations- und Flüchtlingsfrage sind dringend geboten. Insofern können wir auch die Frage, wieviel Einwanderung wollen und brauchen wir, nicht noch länger verschieben.

domradio.de: Sie sagen, ein ganzes Bündel an Maßnahmen wäre nötig. Unterschätzen denn Deutschlands Regierungsparteien gerade die Dimension dieses Flüchtlingsthemas?

Süssmuth: Ich glaube nicht, dass sie sie länger unterschätzen, aber sie haben das große Probleme: Wie begrenzen wir sie denn? Wie nehmen wir sie auf? Es geht um die Fragen wie "sichere" Länder, wie führen wir sie schnell zurück, wie schaffen wir über legale Einwanderung aus bedrängten Gebieten eine bessere Lösung als durch die illegale Übertritte nach Deutschland oder nach Europa?

Das eine müssen wir zwar vom anderen gedanklich trennen, aber in der Wirklichkeit kommt es darauf an, dass wir mit den bedrängten Menschen so umgehen, wie es uns das Gesetz seit Anfang unserer Bundesrepublik aufträgt: menschenwürdiger Umgang.

Und wie schaffen wir es zum anderen so, dass die hier lebende Bevölkerung auch mitmacht? Es gibt weit mehr Menschen als in den 90er Jahren, die sich kümmern wollen, die helfen wollen, aber auch sie brauchen eine Orientierung: Wie steht es denn nun um Flüchtlinge einerseits und Einwanderung andererseits? Wo liegen Verbindungslinien und was trennt uns?

domradio.de: Bei der Einwanderungsdebatte heißt es ja, wie bei vielen anderen Themen - not in my backyard - also so lange es mich nicht selbst betrifft, bin ich für Einwanderung. Geht es aber um ein Flüchtlingsheim in der Nachbarschaft, dann ist schnell Schluss mit Toleranz. Ist das menschlich oder dürfen wir uns damit nicht abfinden?

Süssmuth: Es ist menschlich, aber wir dürfen uns damit nicht abfinden. Wir haben nach dem Krieg 17 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, da sind die Bürgermeister durch die Orte gewandert und haben geguckt, wo ist Platz und haben sie da eingewiesen. Dieses Verfahren können wir heute nicht anwenden, aber mein Nachbar kann genau so gut ein Flüchtling sein. Das ist eine Umstellung, wo viele Menschen erst noch mitmachen müssen.

Das Interview führte Christian Schlegel.


Quelle:
DR