Stationen der kirchenrechtlichen Entwicklung zum Thema Missbrauch

"Das Verbrechen der Verführung"

Der Vatikan hat die kirchenrechtlichen Strafnormen für sexuellen Missbrauch durch Geistliche präzisiert. Seit Jahrhunderten kennt das Kirchenrecht Sanktionen gegen solche Verfehlungen. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) nennt die wichtigsten Stationen der rechtlichen Entwicklung der vergangenen 50 Jahre.

 (DR)

1962: Die Rechtsnorm «Crimen sollicitationis» (deutsch: Das Verbrechen der Verführung) von 1922 wird unter Papst Johannes XXIII. von Kardinal Alfredo Ottaviani für das Zweite Vatikanische Konzil überarbeitet. Die Instruktion vom März 1962 wird geheim gehalten und lediglich den Ortsbischöfen zugesandt. Das Dokument enthält disziplinarrechtliche Normen für Bischöfe in Fällen, in denen ein Beichtvater einen Beichtenden verführt hat. Zudem behandelt es andere als sehr schwerwiegend eingestufte sexuelle Vergehen, darunter den Missbrauch von Minderjährigen.

1983: Das bis heute gültige Kompendium des Kirchenrechts, der Codex Iuris Canonici (CIC) von 1983, übernimmt aus der Vorgängersammlung von 1917 die Umschreibung sexuellen Fehlverhaltens als Verstoß gegen das Sechste Gebot («du sollst nicht ehebrechen»). Kanon 1.395 § 2 des Kirchenrechts bezieht sich ausschließlich auf Priester und Ordensangehörige und schreibt «gerechte Strafen» bis zur Entlassung aus dem Klerikerstand vor.

Der CIC enthält detaillierte Vorschriften für ein innerkirchliches Gerichtsverfahren, das aber in der Praxis nur selten angewandt wird.

30. April 2001: Der päpstliche Erlass «Sacramentorum sanctitatis tutela» (Der Schutz der Heiligkeit der Sakramente) legt fest, dass Sexualdelikte von Priestern fortan in die Zuständigkeit der Glaubenskongregation in Rom fallen. Das Schreiben ordnet sexuellen Missbrauch den sehr schwerwiegenden Vergehen, den «delicta graviora» zu. Für einschlägige Fälle sind die härtesten kirchenrechtlichen Disziplinarstrafen bis hin zur Laisierung vorgesehen: Priester können ihrer Vollmachten enthoben werden und aus dem Klerikerstand entlassen werden. Zudem führt der Erlass eine Verjährungsfrist von zehn Jahren ein. Diese beginnt nach Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers.

18. Mai 2001: Der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, erläutert den Bischöfen der Weltkirche in einem Schreiben mit dem Titel «De delictis gravioribus» die neue Rechtslage. Das Schreiben wird ausschließlich in lateinischer Sprache publiziert. Nach Inkrafttreten werden weltweit etwa 3.000 Beschuldigungen wegen sexueller Übertretungen von Diözesan- und Ordenspriestern aus den vergangenen 50 Jahren bei der Kongregation gemeldet.

2002: Nach Bekanntwerden zahlreicher Missbrauchsfälle in Boston und anderen Diözesen verabschiedet die US-Bischofskonferenz strenge neue Richtlinien im Umgang mit sexuellem Missbrauch durch Kirchenmitarbeiter. Die Null-Toleranz-Politik beinhaltet unter anderem eine Verlängerung der Verjährungsfrist und einen Laisierungs-Automatismus nach erwiesenem Missbrauch. Mit der Genehmigung durch den Vatikan werden die neuen Richtlinien im Dezember 2002 Partikularrecht für die Kiche in dn USA, sie gelten komplementär zu den Bestimmungen des CIC. Dagegen sind die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz vom September 2002 rechtlich unverbindliche Empfehlungen.

7. November 2002: Johannes Paul II. erteilt der Glaubenskongregation die Vollmacht, in begründeten Ausnahmen von der Verjährungsfrist abzusehen, um auch Altfälle behandeln zu können.

April 2010: Der Vatikan veröffentlicht eine «Verständnishilfe» für die Vorgehensweise der Glaubenskongregation bei Missbrauchsvorwürfen. Demnach können Priester «in sehr schwerwiegenden Fällen, bei denen ein staatliches Strafverfahren einen Kleriker für schuldig befunden hat oder bei denen die Beweislage überwältigend ist», vom Papst auch ohne kirchenrechtliches Verfahren laisiert werden. Zudem heißt es, «die staatlichen Gesetze hinsichtlich der Anzeige von Straftaten bei den zuständigen Behörden sind immer zu befolgen». In dem Dokument wird die «Revision» einiger Bestimmungen aus dem Jahr 2001 angekündigt.

15. Juli 2010: Die Glaubenskongregation veröffentlicht einen in Teilen überarbeiteten neuen Text der Normae de gravioribus delictis (Normen über schwerwiegendere Straftaten). Darin wird unter anderem die Verjährungsfrist auf 20 Jahre erhöht. Zudem werden die bisherigen Bestimmungen zu Kinderpornografie und sexuellem Missbrauch von Erwachsenen mit geistiger Behinderung präzisiert. Für die Behandlung von Missbrauchsfällen sind beschleunigte Verfahren vorgesehen.