Es herrsche eine Gleichgültigkeit gegenüber sexuellen Übergriffen von Klerikern, und dies sei ein "schmähliches Versagen", so Isensee in seinem Gastbeitrag.
Der Bonner Staatsrechtler fügt hinzu: "Die anhaltende Realitätsverweigerung durch Hinwegsehen entschuldigt nicht. Kirchenrecht und Moraltheologie haben sich in Praxis wie Lehre ein peinliches Armutszeugnis zugezogen." Sie benötigten dringend eine "Injektion rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Substanz".
"Objektive Verantwortung unstreitig"
Die Kirche, die sich als von Gott eingesetzte Heilanstalt begreife, tue sich von jeher schwer, "sich auch als menschliche Macht zu begreifen und sich Maßstäben der Machtbegrenzung und Machtkontrolle zu unterwerfen, wie sie im säkularen Bereich vorgesehen sind". Involvierte Bischöfe können sich nach Worten des Katholiken Isensee nicht ihrer eigenen Verantwortung entledigen, indem sie sich auf systemisches Versagen berufen.

Ob das Verhalten eines Bischofs strafrechtlich relevant werden könne und unter welchen Umständen, sei in der Fachliteratur streitig. "Unstreitig ist dagegen die objektive Verantwortung", betont Isensee.
Kirchenvolk hat "Freiheit des Wegbleibens"
Ein Bischof schulde förmliche Rechenschaft weder nach unten, zum Kirchenvolk, noch nach außen, zur Mediengesellschaft. "Dennoch kann er sich nicht dem einen und nicht dem anderen wirklich entziehen. Das Kirchenvolk, das seinen Bischof nicht wählen und nicht abwählen und ihm auch keine Weisungen erteilen kann, kann aber die Freiheit des Wegbleibens ausüben und bewirken, dass der Hirt am Ende ohne Herde dasteht", schreibt Isensee.
Einem Bischof bleibe heute nicht erspart, sich gegenüber einer säkularen Öffentlichkeit zu erklären und für sein amtliches Verhalten einzustehen, wenn er Achtung wahren und Wirkung erzielen wolle.
Der 86-jährige Isensee ist Staatsrechtler und Philosoph. Er war bis 2002 Professor am Institut für Öffentliches Recht an der Uni Bonn.