Momentan wird häufig an Gemeinsinn und Moral appelliert - der Soziologe Armin Nassehi sieht in diesen starken Worten selbst ein Krisenphänomen. Auch ein "imaginiertes 'Wir'" erscheine ihm stets wie eine Durchhalteparole, sagte Nassehi im Interview der "Süddeutschen Zeitung" (Wochenende).
Das Ziel solcher Ansprache sei, auseinanderstrebende Kräfte einzufangen. Er werbe dagegen "für einen gesellschaftlichen Umgang, der Pluralität aushält, der unterschiedliche Lebensformen nebeneinander akzeptiert".

Diese Fähigkeit gehe "gerade stark verloren", kritisierte der Wissenschaftler. Auch wenn bei der "Beschwörung des 'Wir'" niemand ausdrücklich ausgeschlossen werde, würden doch Probleme ignoriert. "Es geht in der Demokratie um Konflikte, um handfeste Interessen und die Konkurrenz um die bessere Lösung."
Für den immer schärferen Ton in manchen Debatten, wie etwa um Migration, spielen laut Nassehi die Sozialen Medien eine gewisse Rolle. "Aber auch zu Anfang der Bundesrepublik gingen die Lager weiter auseinander, die Milieus waren damals ja viel geschlossener." Heute sei es indes "schwieriger zu kalkulieren, wo die Konfliktlinien verlaufen".
Gemeinsamkeit von Trump und Klima-Aktivisten?
Große Gesten seien erfolgreich, um gewählt zu werden, fügte der Soziologe hinzu. Dies zeige sich etwa bei US-Präsident Donald Trump. "Die Leute stellen Trump immer als Deppen dar. Aber das ist er nicht. Er macht eine deutliche Ansage für klare Kontinuitäten. Er gibt ein Autonomieversprechen und ein Kontrollversprechen ab. Wenn wir jetzt endlich mal disruptiv vorgehen, dann wird die Welt wieder kalkulierbar sein."
Einen ähnlichen Hang zur großen Geste gebe es bei der Klimabewegung, wenn es etwa heißt, durch die Abkehr von CO2 werde alles gut werden. "Damit bekommt man Gefolgschaft. Und das ist ein großes Problem", mahnte Nassehi. So passiere in der Energieversorgung "unglaublich viel", dem die große Geste eher schade, "weil sie Widerstand erzeugt gegen etwas, das längst läuft".