Soziologe sieht in Appellen an Gemeinsinn ein Krisensymptom

Ein "imaginiertes 'Wir'" als Durchhalteparole

Immer heftigere Auseinandersetzungen einerseits, andererseits Beschwörungen des Miteinanders - viele wünschen sich eine gesunde Debattenkultur. Der Soziologe Armin Nassehi schlägt einen anderen Weg zu diesem Ziel vor.

Symbolbild Vertrauenskrise in der Kirche / © Rob van Hal (shutterstock)
Symbolbild Vertrauenskrise in der Kirche / © Rob van Hal ( shutterstock )

Momentan wird häufig an Gemeinsinn und Moral appelliert - der Soziologe Armin Nassehi sieht in diesen starken Worten selbst ein Krisenphänomen. Auch ein "imaginiertes 'Wir'" erscheine ihm stets wie eine Durchhalteparole, sagte Nassehi im Interview der "Süddeutschen Zeitung" (Wochenende). 

Das Ziel solcher Ansprache sei, auseinanderstrebende Kräfte einzufangen. Er werbe dagegen "für einen gesellschaftlichen Umgang, der Pluralität aushält, der unterschiedliche Lebensformen nebeneinander akzeptiert". 

Soziologe Armin Nassehi auf dem 36. Deutschen Evangelischen Kirchentag (DEKT) am 26. Mai 2017 in Berlin / © Markus Nowak (KNA)
Soziologe Armin Nassehi auf dem 36. Deutschen Evangelischen Kirchentag (DEKT) am 26. Mai 2017 in Berlin / © Markus Nowak ( KNA )

Diese Fähigkeit gehe "gerade stark verloren", kritisierte der Wissenschaftler. Auch wenn bei der "Beschwörung des 'Wir'" niemand ausdrücklich ausgeschlossen werde, würden doch Probleme ignoriert. "Es geht in der Demokratie um Konflikte, um handfeste Interessen und die Konkurrenz um die bessere Lösung." 

Für den immer schärferen Ton in manchen Debatten, wie etwa um Migration, spielen laut Nassehi die Sozialen Medien eine gewisse Rolle. "Aber auch zu Anfang der Bundesrepublik gingen die Lager weiter auseinander, die Milieus waren damals ja viel geschlossener." Heute sei es indes "schwieriger zu kalkulieren, wo die Konfliktlinien verlaufen". 

Gemeinsamkeit von Trump und Klima-Aktivisten?  

Große Gesten seien erfolgreich, um gewählt zu werden, fügte der Soziologe hinzu. Dies zeige sich etwa bei US-Präsident Donald Trump. "Die Leute stellen Trump immer als Deppen dar. Aber das ist er nicht. Er macht eine deutliche Ansage für klare Kontinuitäten. Er gibt ein Autonomieversprechen und ein Kontrollversprechen ab. Wenn wir jetzt endlich mal disruptiv vorgehen, dann wird die Welt wieder kalkulierbar sein." 

Einen ähnlichen Hang zur großen Geste gebe es bei der Klimabewegung, wenn es etwa heißt, durch die Abkehr von CO2 werde alles gut werden. "Damit bekommt man Gefolgschaft. Und das ist ein großes Problem", mahnte Nassehi. So passiere in der Energieversorgung "unglaublich viel", dem die große Geste eher schade, "weil sie Widerstand erzeugt gegen etwas, das längst läuft".

Zehn vergessene Krisen 2024

Die Hilfsorganisation Care erinnert zu Beginn jedes neuen Jahres an humanitäre Krisen, die in den vergangenen zwölf Monaten kaum Schlagzeilen machten. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert die von Care für 2024 gelisteten zehn vergessenen

Dürre / © yuthapong kaewboon (shutterstock)

 

Quelle:
KNA