"Funktionierende, lebendige Gemeinden können lokal den Entkirchlichungsprozess verlangsamen", sagte der Religionssoziologe Detlef Pollack der "Süddeutschen Zeitung" (Dienstag). Insgesamt habe das kirchliche Handeln jedoch nur einen sehr begrenzten Einfluss auf das Sinken der Kirchenbindung.
Gesamtgesellschaftlich eine Tendenz zu liberalen, postmaterialistischen Werten
Pollack rät davon ab, wieder stärker auf traditionelles kirchliches Leben aus früheren Zeiten wie zum Beispiel die tridentinische Messe mit einer Liturgie hauptsächlich auf Latein zu setzen.
"Für die Mehrheit wäre das eher abstoßend. Wir haben gesamtgesellschaftlich eine Tendenz zu liberalen, postmaterialistischen Werten, zu Selbstbestimmung, zur Gleichberechtigung der Geschlechter, zu Akzeptanz von Homosexualität", sagte der Leiter des Centrum für Religion und Moderne der Universität Münster.
"Wenn die Kirche nicht mit der Zeit geht, würde sie noch mehr Menschen verlieren und nur wenige gewinnen."
Entkirchlichung aller Teile der Gesellschaft
Seit ungefähr 20 Jahren umfasse die Entkirchlichung alle Teile der Gesellschaft. "Davor waren es vor allem die Gebildeten und Wohlhabenden, die Städter, die Männer, die dem Glauben und der Kirche den Rücken zugekehrt haben", sagte Pollack.
Die Tendenz zur Entkirchlichung setze sich fort. Zuerst nehme die Bedeutung der religiösen Praktiken ab, die Zeit und Kraft kosten, also Gebet und Kirchgang. "Dann folgen die Kirchenmitgliedschaft und der Glaube", sagte der Religionssoziologe.
Aus Sicht Pollacks würde etwas fehlen, wenn es Kirche und Glaube nicht mehr gäbe. "Wir sehen es im Osten Deutschlands, wo sich in weiten Teilen eine Mentalität der Selbstbehauptung und des Sich-Beschwerens durchgesetzt hat - eine wirklich unchristliche Form der Undankbarkeit", sagte der Wissenschaftler. Er könne im Bedeutungsrückgang des Christentums nicht viel Gutes erkennen.
Religion weltweit auf dem Rückzug
Weltweit ist Pollack zufolge die Säkularisierung zu einem zentralen Trend geworden. "Die Religion erfährt derzeit einen dramatischen, historisch beispiellosen Bedeutungsrückgang." Säkularisierungsprozesse gebe es auch in vielen Ländern Lateinamerikas, Nordafrikas und Asiens, sogar in Ländern wie den USA, Iran oder Polen, die bislang als religiöse Hochburgen galten.
"Umfragen zufolge verstehen sich in Iran nur noch 40 bis 50 Prozent der Menschen als Muslime, 22 Prozent bezeichnen sich als religionslos, neun Prozent sogar als Atheisten."
Menschen legen Wert auf ihre Entscheidungskompetenz
In modernen westlichen Gesellschaften legten die Menschen Wert auf ihre Kompetenz zur Entscheidung und wehrten alle Versuche von Bevormundung ab. "Auch in Existenz- und Glaubensfragen bestehen sie auf ihre Autonomie und folgen nicht mehr autoritativen Vorgaben", so der Religionssoziologe.
Die moderne Gesellschaft halte viele Möglichkeiten der Partizipation und der Selbstverwirklichung bereit. "Unmerklich verschiebt sich so die Aufmerksamkeit von der Frage nach den ersten und letzten Dingen unseres Lebens zu der Frage, was man im Hier und Jetzt tun möchte."