DOMRADIO.DE: Jesus bittet im Garten Gethsemani seine Jünger: Bleibt hier und wacht mit mir! Er hat Todesangst und will in der Nacht vor seiner Verhaftung nicht alleine sein. Wie viele Ölbergstunden haben Sie schon im Hospiz erlebt?

Christa Gustson (Koordinatorin im Ambulanten Hospizdienst der Johanniter): Ich habe sie nicht gezählt und will das auch nicht, aber viele hundert werden es gewesen sein. Manchmal war ich Tage oder Stunden vor dem Tod da und habe eine Sitzwache übernommen. Und wenn ich dann eine Schicht abgegeben habe und nach Hause gefahren bin, habe ich das immer in dem Bewusstsein getan, dass nun ein anderer an meiner Stelle übernimmt, der Sterbende am nächsten Tag aber vielleicht auch nicht mehr da ist. Ganz oft war ich auch in der Stunde des Todes am Bett. Nach wie vor ist das für mich ein sehr intensiver und intimer Moment, vielleicht vergleichbar dem Augenblick der Geburt, wobei ich im Kreißsaal selbst bestimmen kann, wer an meinem Bett steht. Beim Sterben ist es oft so, dass die Menschen das nicht in der Hand haben. Es ist ein Moment, der sich uns völlig entzieht.
Ganz wichtig für mich ist, dass der Sterbende am Ende seines Lebens Vertrauen fasst zu dem Menschen, der dann da ist, was häufig schon vor dem eigentlichen Sterbeprozess entsteht. Das heißt, es ist wichtig, die Persönlichkeit kennenzulernen und mögliche Wünsche für das Lebensende schon im Vorfeld zu besprechen oder zu erahnen – wenn der Sterbende seinen Willen nicht mehr äußern kann – was sich der Sterbende eventuell wünschen würde. Das kann helfen, Ängste zu nehmen, und es entsteht das Vertrauen, in den letzten Stunden nicht alleine gelassen zu sein.
DOMRADIO.DE: Ist das eine Urangst, im Sterben allein zu sein?
Gustson: Ich glaube ja. Aber größer noch ist die Angst vor dem Wie. Die Sorge davor, dass man qualvoll stirbt, ist fast genauso groß wie die Angst, dass man alleine stirbt. In den letzten Stunden eines Sterbenden ist mir oft der Text von Friedrich Carl Barth eingefallen: „Wenn es soweit sein wird mit mir, brauche ich den Engel in dir. Bleibe still neben mir in dem Raum, jag’ den Spuk, der mich schreckt, aus dem Traum. Spür das Klopfen, das schwer in mir dröhnt, nimm den Lebenshauch wahr, der verstöhnt. Wenn es soweit sein wird mit mir, brauche ich den Engel in dir.“

DOMRADIO.DE: Sie waren 16 Jahre lang Palliativschwester, sind nun als Koordinatorin im Ambulanten Hospizdienst tätig und haben unzählige Menschen beim Übergang vom Leben in den Tod begleitet. Haben Sie da manchmal für sich persönlich diese Bibelszene am Ölberg vor Augen gehabt?
Gustson: Besonders nachts kann diese Bitte, dass jemand bei einem wacht, man nicht alleine dieser Sterbestunde „ausgeliefert“ ist, auch unausgesprochen sehr präsent sein. Oft bin ich selber gerade dann, wenn alle anderen schlafen oder zur Ruhe kommen wollten, wach geblieben, habe zwar mit der Müdigkeit gekämpft – denn still sitzen und nichts tun sind die größten Herausforderungen bei einer Sitzwache – aber am nächsten Morgen, wenn die Sonne aufging, hat mich dann das Gefühl gestärkt, den mir anvertrauten Menschen durch die Nacht begleitet zu haben. Oft sind die Ängste und Sorgen in der Dunkelheit noch größer als am Tag, der doch viel Ablenkung bringt. Auch ohne an die biblische Vorlage dabei zu denken, konnte ich mich in diese Situation immer gut hineinfühlen. Schließlich tun Hospizmitarbeiterinnen und -mitarbeiter nichts anderes, als den Menschen nahe zu sein und über sie zu wachen – und das in der schwersten Stunde ihres Lebens.
DOMRADIO.DE: Manche Sterbeprozesse dauern lange, sind für Außenstehende mitunter qualvoll anzusehen und durchlaufen unterschiedliche Phasen. Andere sind manchmal überraschend kurz. Welche Ängste sind Ihnen da am Ende eines Lebens schon begegnet?
Gustson: Menschen, denen zwischen Diagnosestellung und Sterben nicht viel Zeit bleibt, werden vom Prozess der Krankheit wie von einem Zug überrollt. Ihnen bleibt keine Zeit für die Anpassung an eine Krankheitsphase, für eine Akzeptanz der Krankheit oder das Los- und sich Fallen-Lassen am Ende des Lebens. Da bleibt manchmal viel ungesagt, manches unversöhnt. Diese Sorgen sind dann auch beim Sterben bemerkbar. Menschen wiederum, denen noch viel Zeit bleibt, können den Verlauf mitgestalten und letzte Dinge regeln, wenn sie das denn möchten. Nichtsdestotrotz herrscht auch bei Menschen mit einem langen Krankheitsverlauf große Traurigkeit, wenn sie sich klar machen, dass sie Weihnachten nicht mehr erleben, den Geburtstag der Tochter oder die Taufe des Enkels. Dann gibt es die Traurigkeit, sich von allen verabschieden zu müssen, und manchmal überwiegt auch die Angst vor der Ungewissheit: Was erwartet mich? Was passiert nach dem Tod? Zumal der Glaube sehr in den Hintergrund gerückt ist.

Menschen, die wirklich sagen, ich glaube, dass es ein Danach gibt und irgendwie weitergeht, begegne ich mittlerweile seltener. Zumindest wird es nicht oft ausgesprochen, selbst wenn jemand die Hoffnung hat, dass der Tod noch nicht das Ende ist. Viele Menschen sprechen ja auch davon, dass sie ihre Angehörigen noch mal im Traum gesehen haben, die verstorbene Mutter, den Bruder. Das ist gar nicht so selten. Und das macht dann auch etwas mit mir, weil ich dann denke, da ist ja doch Hoffnung. Und das hat auch mir selbst immer die Hoffnung gegeben, dass da noch etwas kommt. Wenn man davon häufiger etwas spüren würde, glaube ich, würden die Menschen auch vertrauensvoller, angstfreier und zuversichtlicher in den Tod gehen.
DOMRADIO.DE: Gibt es auch das Aufbegehren und nicht Akzeptieren, wenn es ans Abschiednehmen geht?
Gustson: Natürlich, es gibt auch dieses Sich-Auflehnen und Klammern – gerade bei Menschen, die schon ihre Krankheit nicht akzeptieren konnten, sich kaum darauf einlassen können, dass das Leben zuende geht, und die auch im hospizlichen Kontext bis zum Schluss gegen den Tod ankämpfen. Die meisten können sich allerdings spätestens dann fallen lassen. Manchen aber gelingt es auch gar nicht. Oft weil doch vieles noch ungeregelt ist, es Differenzen mit anderen Menschen gibt, die bisher nicht aufgehoben oder nicht mehr bearbeitet werden konnten.
Manchmal wurde ich darauf angesprochen – und das hat dann sicher mit meinem Alter und auch meiner Erfahrung als Palliativsschwester zu tun – wie das bei uns im Haus mit dem Sterben geht, weil man mir zutraut, dass ich darauf eine ehrliche Antwort gebe. Und die fiel mir auch nicht schwer, weil ich immer versichere: „Wir werden für Sie da sein, wir lassen Sie nicht allein und versuchen die Leiden, die Sie haben, zu lindern.“ Das beruhigt. Und ein solcher Zuspruch ist oft die Voraussetzung, um Vertrauen zu gewinnen. Und damit kann man dann gut den weiteren Weg gehen.
DOMRADIO.DE: Jesus fürchtete sich vor dem Alleinsein in seiner Todesnot. Begegnen Sie dem Phänomen Einsamkeit?
Gustson: Diese Einsamkeit beginnt bereits mit dem Erkranken. Wer die Diagnose einer unheilbaren Krankheit erhält, ist damit naturgemäß allein. Denn niemand kann einem ja diese Krankheit abnehmen. Da hilft es auch nicht, wenn andere an derselben Krankheit leiden. Jeder Weg ist anders und muss letztlich auch allein gegangen werden. Von daher gibt es bereits eine Einsamkeit auf diesem Krankheitsweg, selbst wenn einen viele Menschen begleiten und ein großes soziales Netz trägt.
Im hospizlichen Setting sind die Menschen eher nicht allein, die Sterbenden nicht und auch ihre Angehörigen nicht. Denn sie werden von Beginn an mit gesehen, mit gehört und in dem, was sie tun, bestärkt und unterstützt. Dadurch gehen sie oft selbstbewusst in den Sterbeprozess ihrer Lieben und bündeln ein letztes Mal ihre Kraft. Trotzdem zieht sich die Einsamkeit dessen, der sich auf dem Weg zu sterben befindet, bis zum Ende durch, selbst wenn andere am Bett stehen. Diesen Weg durch die Krankheit hindurch bis in den Tod – den geht jeder allein, auch wenn zehn Leute am Bett stehen. Es hilft sicher, aber es ändert nichts daran, dass den eigentlichen Sterbeprozess jeder alleine bewältigen muss.
Und wenn keiner da ist, dann sind Pflegende oder auch Ehrenamtliche dabei, weil wir der Überzeugung sind, dass kein Mensch alleine sterben sollte. Das bedeutet nicht, dass jemand stundenlang die Hand eines Patienten hält. Es gibt auch eine mentale Begleitung: Das heißt, dass ich im Bewusstsein habe, dass sich jemand gerade verabschiedet – auch wenn ich immer mal in einem anderen Raum mit anderen Dingen beschäftigt bin. Trotzdem kann ich mich mit dem Sterbenden gedanklich und emotional verbinden. Ich kann die Tür zu ihm auf lassen und ab und zu nach ihm schauen. Sterbebegleitung heißt ja nicht nur, pausenlos an einem Bett zu sitzen und körperliche Nähe zu zeigen – ganz unabhängig davon, dass manche Sterbenden auch einen gewissen Abstand brauchen.

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt das Gebet?
Gustson: Tatsächlich rückt das Gebet oder der Wunsch nach einem Gebet mehr und mehr in den Hintergrund. An diese Stelle treten eher Gespräche und Fragen wie zum Beispiel nach dem Sinn des Lebens oder „Gibt es ein Leben nach dem Tod?“ Diese Fragen kommen häufig ganz unvermittelt zwischendurch: während der Pflege, auf dem Flur oder beim Weg im Rollstuhl in den Garten. Und sie brauchen meist auch keine besondere Situation. Vor allem werden solche Fragen an diejenigen im Team gerichtet, von denen der Kranke meint, hier genau beim richtigen Adressaten damit zu sein.
Apropos Gebet: Eine Begegnung werde ich nicht vergessen: Bei einem der regelmäßigen Taizé-Singen des Ambulanten Hospizdienstes der Johanniter in der Kapelle des Hospizes wurde einmal das Bett einer älteren Dame in den Raum geschoben, die zunächst aufmerksam mit dabei war, dann aber furchtbar zu weinen anfing. Ich musste schließlich mit ihr mitweinen, hielt aber die ganze Zeit über ihre Hand. Das war für mich der Moment eines stillen Gebetes, einer spirituellen Verbindung, die mit einem Mal da war, ohne dass wir miteinander hätten sprechen müssen. Es war ein Gebet und hatte doch eine ganz andere Form.
DOMRADIO.DE: Was kann man tun in den letzten Stunden eines Menschen, um ihm den Abschied zu erleichtern?
Gustson: Jedenfalls kann man mehr tun, als man denkt. Und das Wichtigste ist eigentlich, da zu sein. Außerdem ist wichtig, Ruhe auszustrahlen, Sicherheit zu vermitteln, Ideen aus dem Hut zu zaubern – und zwar intuitiv und nicht genormt – zum Beispiel das Bett in den Garten zu fahren oder zu fragen, ob die Mundpflege mit Sekt erfolgen soll. Kleine überraschende Dinge, die im Moment Linderung verschaffen können oder auch Freude schenken – individuell angepasst an die Situation und den Menschen, den ich gerade begleite.
Dazu gehört auch, Angehörige zu stärken – an Leib und Seele, gerade wenn ein Sterbeprozess über mehrer Tage geht – oder sie zu loben. Und es braucht – vor allem für die professionellen Begleiter und Pflegenden – eine Behutsamkeit und gleichzeitig eine Eindeutigkeit im pflegerischen Handeln. Jeder professionelle Begleiter sollte ein Bewusstsein entwickeln, dass der Tod zum Leben dazu gehört und doch niemals ein Geschehen ist, was zur Gewohnheit wird. Wie oft habe ich erlebt, das Sterben eines Menschen ist genauso individuell wie sein Leben.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.