Seit einem Jahr gibt es das Sorgentelefon für Muslime - eine Bilanz

"Angebot für Menschen, die Hilfe benötigen"

Bis zu 4,3 Millionen Muslime wohnen in Deutschland. Außerhalb der Moscheegemeinden gibt es speziell für sie nur wenige Angebote zur Lebenshilfe. Vor einem Jahr startete das erste muslimische Sorgentelefon. Getragen und finanziert von der Hilfsorganisation Islamic Relief, arbeitet der Service eng mit Caritas und Diakonie zusammen.

Autor/in:
Christoph Schmidt
 (DR)

Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur berichtet Geschäftsführer Imran Saghir über die Arbeit der ehrenamtlichen Helfer und die Probleme der Anrufer.

KNA: Herr Saghir, wie ist Ihre Bilanz nach einem Jahr Sorgentelefon?
Saghir: Die ist sehr positiv. Wir hatten in dieser Zeit ungefähr 1.600 Anrufer, also im Schnitt vier bis fünf pro Tag. Das waren mehr als erwartet, zumal wir bis Februar nur acht Stunden täglich erreichbar waren. Inzwischen haben wir das Angebot auf zwölf Stunden ausgeweitet. Irgendwann wollen wir rund um die Uhr bereitstehen.

KNA: Mit welchen Problemen rufen die Leute bei Ihnen an?
Saghir: Da findet sich das ganze Spektrum. Am häufigsten geht es um Konflikte in der Partnerschaft oder in der Familie. Aber auch Suchtprobleme, Prüfungsängste, finanzielle Sorgen und psychische Probleme sind Gründe. Daneben gibt es Gewalterfahrungen, auch Vergewaltigungsopfer haben sich schon gemeldet.

KNA: Ist sexueller Kindesmissbrauch ein Thema?
Saghir: Bisher hatten wir erst drei oder vier Anruferinnen, die als Mädchen missbraucht wurden. Das heißt natürlich nicht, dass sexueller Missbrauch in muslimischen Familien nicht vorkommt. Auch hier gibt es sicherlich eine traurige Dunkelziffer. Aber die Hemmung, darüber zu sprechen, ist bei muslimischen Opfern vielleicht besonders stark. Wir vom Sorgentelefon haben jedenfalls für jedes Problem ein offenes Ohr, für uns gibt es keine Tabus.

KNA: Wie sieht die Gemeinde der Anrufer aus? Gibt es da typische Merkmale?
Saghir: Ja, zwei Drittel der Anrufer sind Frauen, ähnlich wie bei anderen Telefonseelsorgestellen auch. Männer verdrängen eben mehr oder schämen sich, über Schwierigkeiten zu reden. Außerdem ist ein Großteil der Anrufer zwischen 30 und 40 Jahre alt, wahrscheinlich deshalb, weil in dieser Zeit familiär und beruflich besonders viel in Bewegung ist.

KNA: Telefondienste zur Lebenshilfe gibt es viele, warum brauchte es ein Sorgentelefon speziell für Muslime?
Saghir: Das hat den praktischen Grund, dass unsere Ehrenamtlichen den kulturellen Rahmen der Anrufer kennen und ihre Probleme somit oft besser verstehen und einordnen können als Nichtmuslime, etwa bei schambesetzten Themen wie Suchtproblematiken und auch familiären Konflikten. Bei den Anrufern erzeugt das einen Vertrauensvorschuss. Sie sind eher bereit, sich zu melden und wirklich zu öffnen.

KNA: Verstärkt ein eigenes muslimisches Angebot nicht die Separierung der Muslime?
Saghir: Die Sorge habe ich überhaupt nicht. Es geht doch vor allem darum, den Menschen möglichst effektiv aus schwierigen Lagen herauszuhelfen. Dafür muss man sie erreichen. Genauso gibt es in Berlin zum Beispiel eine russische Telefonseelsorge. Außerdem wird die Beratung zunächst einmal auf Deutsch angeboten. Daneben sind bei unseren Ehrenamtlichen zwar sieben andere Sprachen vertreten, aber nur dienstags bieten wir gezielt Gespräche auf Türkisch an. Hinzu kommt noch, dass wir je nach Lage der Sorge unterschiedlichste Angebote empfehlen. Gerade auch die Angebote der nichtmuslimischen Beratungslandschaft in unserem Lande werden von uns genannt.
Im Übrigen haben uns mit Diakonie und Caritas ja christliche Partner darin bestärkt, ein eigenes muslimisches Telefonangebot aufzubauen. Sie unterstützen uns mit ihrer Erfahrung bis heute bei der Auswahl und Ausbildung der ehrenamtlichen Helfer. Die Zusammenarbeit ist sehr eng und vertrauensvoll, in den Lehrgängen lernen Muslime und Nichtmuslime gemeinsam, anderen zu helfen. Insofern ist das Projekt sogar integrationsfördernd.

KNA: Wer meldet sich als Ehrenamtlicher? Bestehen Sie auf frommen Muslimen?
Saghir: Wir machen keinen Frömmigkeitstest oder so etwas. Wir gehen aber davon aus, dass die Ehrenamtlichen alle gläubige Muslime sind. Oft erfahren sie durch Mund-zu-Mund-Propaganda im Bekanntenkreis oder Verein bis hin zu den Moscheegemeinden von der Möglichkeit, bei uns ehrenamtlich zu arbeiten. Viele sind dann so Anfang 30. Entscheidend ist für die Auswahl, dass sie engagiert, belastbar und einfühlsam bei der Sache sind.
Unter den derzeit 42 Helfern sind Ärzte, Händler, Hausfrauen, Psychologinnen, Sozialarbeiter - alles gut integrierte Leute, die sich für diese Gesellschaft einsetzen. Es arbeiten auch zwei Imame mit, die sich auch ans Telefon setzen, um seelsorgerisch tätig zu sein. Darüber hinaus stehen Sie uns als Dienst zu religiösen Fragen zur Seite. Schließlich sind wir ja keine Hotline für Rechtsgutachten, sondern ein Angebot für Menschen, die Hilfe benötigen.