Seit 60 Jahren erscheint "Der Spiegel" - lange feindete das Nachrichtenmagazin den Vatikan an

Leitmedium "Montagsschreck"

Als am 4. Januar 1947 der erste "Spiegel" erschien, war sein Chefredakteur und Herausgeber erst 23 Jahre alt. Rudolf Augstein war aus dem Krieg in seine Heimatstadt Hannover zurückgekehrt und dort auf den britischen Presseoffizier John Seymour Chaloner gestoßen. Der hatte den Auftrag, zur Entnazifizierung und "Umerziehung" der Deutschen demokratische Zeitungen zu gründen. - Hören Sie hier einen domradio-Beitrag über das schwierige Verhältnis zwischen "Spiegel" und Vatikan.

 (DR)

"Mut und Raffinesse"
Der Stabsfeldwebel Harry Bohrer, ehemaliger Manager einer Glasfabrik in Prag, war als Chefredakteur ausersehen. Später kam der junge Augstein dazu. Zunächst entstand 1946 "Diese Woche", die aber nur sechs Wochen überlebte.

Augstein hatte sich früh mit "Mut und Raffinesse" hervorgetan, so sein jahrzehntelanger Weggefährte Leo Brawand. Der Mut aber war aus Besatzersicht die Frechheit, wiederholt ausgerechnet die britische Militärregierung zu kritisieren. Entnervt entschieden die Sieger, das aufmüpfige Wochenblatt ganz in deutsche Verantwortung zu übergeben. Zusammen mit zwei anderen Deutschen wurde Augstein Lizenzträger - mit der Pflicht zur Umbenennung der Zeitschrift.

"Eine der größten Erfolgsstorys der Nachkriegszeit"
So entstand "Der Spiegel". Blättert man heute durch den ersten Jahrgang des "deutschen Nachrichtenmagazins", so ein später eingeführter Untertitel, finden sich schon alle Zutaten dessen, was später "eine der größten Erfolgsstorys der Nachkriegszeit" (Peter Glotz) werden sollte: der Detailreichtum, mit dem Neuigkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur präsentiert wurden, der erzählerische, personalisierende Stil, der dem Leser auch trockene Themen schmackhaft machen sollte, und vor allem der "Spiegel"-typische Grundton respektloser Ironie, der dem Magazin bei aller Faktentreue kritische Schärfe verlieh.

Die Zeitschrift, deren Redaktion 1952 von Hannover nach Hamburg umzog, galt vielen Politikern der Bonner Republik als "Montagsschreck". Am Erscheinungstag lieferte das Magazin mit schöner Regelmäßigkeit Enthüllungen wie diese: Flick, Neue Heimat, Coop. Dann die "Spiegel"-Affäre 1962: wegen des Verdachts, er habe mit der Titelgeschichte "Bedingt abwehrbereit" Landesverrat begangen, saß Augstein bis Februar 1963 in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe stellten sich als haltlos heraus. Für Verteidigungsminister Franz Josef Strauß wurde die Affäre eine bittere Niederlage, für Augstein und den "Spiegel" eine unverhoffte Werbeaktion.

Augstein, der im November 2002 starb, wurde mit der Zeitschrift reich. Die Auflage stieg und stieg, das Anzeigengeschäft florierte entsprechend. Die Millionengrenze beim Verkauf war 1989 übersprungen. Derzeit ist die Auflage leicht rückläufig, lag aber im 3. Quartal dieses Jahres noch immer über einer Million (1,08 Mio.) vor "Stern" und "Focus". Die Reichweite beträgt 6,04 Millionen Leser wöchentlich.

Und dann kam "Spiegel Online"
Besser als jeder andere Presseverlag hat "Der Spiegel" die Herausforderungen der neuen Medien bewältigt - was er nicht zuletzt dem heutigen Chefredakteur Stefan Aust (seit 1994) verdankt. Ab 1988 baute Aust „Spiegel TV" auf, und 1994 startete "Spiegel Online" - heute eines der reichweitenstärksten Info-Angebote im deutschsprachigen Internet.

Der kleine Medienkonzern "Spiegel" erreichte im vergangenen Jahr einen Umsatz von 322 Millionen Euro. Die Gewinne fließen an Augsteins Erben, an den Großverlag Gruner + Jahr und zur guten Hälfte an die Mitarbeiter selbst. Zeitschriftengründer Augstein hatte der Belegschaft 1974 die Hälfte seines Verlags geschenkt - nicht zuletzt, um Begehrlichkeiten nach Innerer Pressefreiheit die Spitze zu nehmen.

Kritik am "Spiegel" kommt heute ausgerechnet aus dem Gesellschafterkreis, von Augsteins Tochter Franziska, selbst eine namhafte Journalistin. Unter Chefredakteur Aust habe das Blatt seinen Wert als Leitmedium verloren, sagte sie im November 2005. „Der Spiegel" sei heute "ein geschwätziges Blatt unter anderen". Aust möchte sich dazu nicht äußern, sagt aber grundsätzlich: "Wir sind ja auch nicht unfehlbar." Fehlern werde gründlich nachgegangen. Denn: "Glaubwürdigkeit ist unser wichtigstes Kapital."