Diakon nimmt Gebetsanliegen per Twitter entgegen

Seelsorge in 140 Zeichen

Er schließt fremde Menschen in seine Gebete ein, zündet Kerzen für sie an und stellt jeden Abend per Twitter die Frage: Wie geht es dir? Was als Zufall begann, ist für Diakon Christian Harttig zum Online-Seelsorge-Projekt geworden.

Twitter auf dem Smartphone / © Thaspol Sangsee (shutterstock)
Twitter auf dem Smartphone / © Thaspol Sangsee ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Warum stellen Sie online immer wieder diese Frage: Wie geht es dir, wie war dein Tag?

Christian Harttig (IT-Fachmann und Diakon, twittert unter dem Namen @chrittig): Das war eigentlich Zufall, dass das jemand anderes gemacht hat letztes Jahr im Mai. Und ich fand die Frage so genial, weil diese Person auch geantwortet hat, und sprach mit ihr darüber. Sie wollte das nur als einmalige Sache machen. Ich dachte, nee, eigentlich gehört das jeden Tag hier hin. Und als ITler ist so ein Automatismus schnell eingerichtet. Jetzt kommt die Frage automatisch jeden Abend um 19 Uhr.

DOMRADIO.DE: Haben Sie sofort Antworten bekommen?

Harttig: Das war total schleppend. Angefangen hat das im Mai 2019. Und die ersten drei Monate habe ich jeden dritten Tag gar keine Reaktion bekommen und war froh, wenn es sechs oder sieben waren an einem Abend. Das war wirklich schon viel. Das ging lange so.

Dann kam Corona. Mit dem Lockdown explodierte das. Dann hab ich Antworten und Reaktionen in Massen bekommen. Auf einmal waren da 36 Antworten an einem Abend. Ich dachte, ups, was ist da passiert? Und das hielt sich wochenlang während es Lockdowns, im Schnitt waren es fast 60, Rekord waren 109 Antworten.

DOMRADIO.DE: Die Menschen haben ihnen gesagt, wie es ihnen geht. Das heißt, sie konnten ihr Herz ausschütten. Sie haben dann aber auch reagiert. War das plötzlich viel Arbeit?

Harttig: Ja, war es. Ich hab dann irgendwann Hilfe gebraucht und da fanden sich auch ein paar Twitterer, die geholfen haben diese erste Reaktion zu beantworten. Einfühlsam und empathisch, so dass ich mich ein bisschen zurückziehen konnte, weil doch immer mehr Menschen bei mir im privaten Postfach landeten und da dann längere Gespräche suchten. Und ich dann auch mal die Chance hatte zwei Gespräche parallel zu führen.

DOMRADIO.DE:  Es wurden immer mehr Follower. Bei wie vielen sind Sie denn jetzt?

Harttig: 2109 heute morgen, glaube ich. Vor Corona war ich knapp unter 500. Mai und Juni, diese Lockdown-Zeit, hat das verdreifacht. Das war erschreckend.

DOMRADIO.DE: Anfangs konnten sie noch jedem persönlich antworten, als Online-Seelsorger sozusagen. Das geht jetzt nicht mehr. Das sind zu viele Rückmeldungen, um das alleine zu schaffen. Wie läuft das weiter? Wird es dadurch nicht mehr so persönlich wie es war?

Harttig: Ja, ich hab anfangs zu ein paar Leuten eine Beziehung aufgebaut und wusste, auch wenn die wochenlang nicht da gewesen waren, wer das ist. Das ist verloren gegangen. Das ist auch so, dass die anderen, die mir beim Antworten helfen, ihre eigene Beziehung aufgebaut haben, dass ich quasi nur die Frage stelle, der Rest läuft da ab. Ansonsten ist auch den Leuten klar, dass ich das nicht schaffen kann und ich antworte nur noch vereinzelt, wenn ich das Gefühl habe, das ist jetzt echt nötig. Viele sind auch einfach froh es dazulassen, es abzulegen und irgendwie, ja, wegzupacken.

DOMRADIO.DE: Worüber erzählen die Menschen ihnen?

Harttig: Während des Lockdowns war Homeschooling ein ganz großes Thema. Dieses: Stress mit den Kindern, die Kinder funktionieren nicht, wollen nicht so richtig. Und da war mein Bemühen immer, doch anzusagen Druck rauszunehmen und lieber auf der Beziehungsebene zu arbeiten und die Beziehung zum Kind zu pflegen, als irgendwie auf Leistung zu achten. Und ansonsten ist es echt querbeet.

Zum Beispiel eine Person, die mit mir über Polyamorie diskutieren wollte, ob das denn für sie irgendwie eine Lebensform wäre. Wo ich natürlich keine Ahnung von habe und auch nur sagen kann was ich gelesen habe und dann quasi Spiegelbild bin. Also sage, ich reflektiere mal was du mir erzählst und guck mal was bei rauskommt.

DOMRADIO.DE: Das heißt, die nötige Distanz ist da und man versucht den andere nicht zu verändern, sondern versucht ihn zum Weiterdenken anzuregen?

Harttig: Genau. Auf einer Ebene bleiben, auf einer Augenhöhe bleiben. Also nicht den offiziellen Teil rauszuhauen, sondern ich bin mit den Menschen unterwegs, ich bin da nicht irgendwie von oben herab, und für die Menschen und auf einer Ebene bleiben.

DOMRADIO.DE: Sind das ausschließlich gläubige Menschen, die sich bei ihnen melden?

Harttig: Nein, gar nicht. Da signalisiere ich auch ganz klar, dass ich offen bin. Das erfrage ich auch oft gar nicht. Merke auch in den Rückmeldungen die kommen, dass Leute sagen, ich hab mit Kirche nichts zu tun. Aber dank dir hab ich da eine Offenheit erfahren, die mich begeistert.

Letzte Woche kam eine junge Frau die sagte, hey, wegen dir habe ich mich getraut, mich im katholischen Altenheim zu bewerben. Das wäre vor einem halben Jahr überhaupt nicht in Frage gekommen mich da zu bewerben. Jetzt hat sie das probiert und hat da, glaub ich, Spaß auf Dauer.

DOMRADIO.DE: Das heißt, es ist ganz offensichtlich, dass die Leute sich mit einem katholischen Diakon unterhalten?

Harttig: Genau, das hab ich oben in meiner Twitter-Biografie ganz deutlich stehen. Es gab dann schon mal die Anregung, dass doch noch deutlicher zu machen, dass da irgendwie Kirche drin steckt. Ich hab dann versucht in meinen Twitter-Namen den Diakon einzubauen, bin da aber sofort gebremst worden, weil das die Ebene wieder verschieben würde, wo es dann hieß, bleib mal auf unserer Ebene, heb dich nicht hoch. So kann man sehen, wenn man will, dass Kirche drinsteckt, aber man muss es halt nicht sehen. Man ist halt nicht so aufdringlich.

DOMRADIO.DE: Einmal im Monat machen Sie eine stille Anbetung und bieten vorher an Anliegen mitzunehmen. Mit welchen Anliegen wenden die Menschen sich an Sie?

Harttig: Das ist jetzt leider wegen Corona eingeschlafen, weil ich mache jetzt keine private Anbetung, weil die anderen Leute ja auch nicht rein dürfen. Unsere Kommune zuhause war da sehr streng, was Gottesdienst anging. Aber vor Corona war es wirklich so, dass die Anfragen wie Anliegen stetig stiegen. Immer so zwei mehr jeden Monat. Viel Gesundheit, viel Glück für die Kinder, aber auch so Sorgen des Alltags einfach, aber auch wieder querbeet. Und dieses Outsourcen funktioniert erstaunlicherweise, dass ich quasi viele Leute ins Gebet nehme wird angenommen. Das hätte ich vorher nie gedacht.

DOMRADIO.DE: Warum bestellen Sie inzwischen regelmäßig Kartons mit mehr als 2000 Kerzen?

Harttig: Ja, das war auch so ein Zufall, dass ich irgendwie sonntags in der Kirche stand und für meine Anliegen Kerzen anzünden wollte. Das Kleingeld aber nicht passte, und dann hab ich halt mehr Kerzen angezündet. Ich habe ein Foto von den Kerzen bei Twitter eingestellt und gesagt, die Leute, die jetzt ein Anliegen haben, sollen  sich eine Kerze symbolisch nehmen. Und das funktionierte.

DOMRADIO.DE: Also im realen Leben Kerzen anzünden, ein Foto davon machen und digital hochladen. Warum machen sie das?

Harttig: Weil es ankam. Das hat sich so ergeben. Und als dann der Lockdown kam und ich dachte, okay, es können viele Leute nicht in die Kirche gehen, ich sitze im Homeoffice, hab die Kirche gegenüber, 300 Schritte hin und zurück, geh mal rüber und zünd mal jeden Tag Kerzen an. Und das wurde angenommen, immer und immer wieder.

Als ich im Lockdown kein Kleingeld mehr hatte, hab ich überlegt, wie halte ich das jetzt nach wie viel ich in den Opferstock schmeißen muss und hab dann gesehen wo die Kerzen bestellt werden. Bei Twitter habe ich gesagt, ich würde jetzt Kerzen bestellen, einen ganzen Karton, das würde ja Sinn machen, ob einer mitmachen und spenden wollte. Und die Leute wollten spenden. So dass ich am Ende nicht einen Karton sondern neun Kartons bestellt habe, über 2000 Kerzen, und seit Mai dabei bin, diese Kerzen abzuarbeiten.

DOMRADIO.DE: Und sie haben dabei auch schon tolle Sachen erlebt.

Harttig: Ja, das Schönste ist eigentlich, dass es auch Vorbestellungen gibt. Es kam eine Vorbestellung von einer Frau, die unter anderem Kerzen für ihre Eltern zum Hochzeitstag wollte. Und ich bin ja ein bisschen neugierig, hab nachgefragt und die Eltern hatten dann im Sommer ihren 69. Hochzeitstag. Wo ich einfach gesagt habe, normalerweise würden sie Gottesdienst feiern, Eheversprechen erneuern, was sie jetzt nicht können wegen des Lockdowns, dann mach ich da mehr und hab ihr ein Video gedreht und einen Segen über Video spendiert. Mein Organist war da und hat das Ave Maria von Schubert gespielt. Und dann haben sie die beiden Videos bekommen zum Hochzeitstag.

Ich habe dann Videos bekommen, wie sie das geguckt haben. Und wenn ich es mir wieder angucke, bin ich immer noch gerührt und es war einfach schön, war toll. Und wenn alles gut geht, geht es nächstes Jahr für mich an den Bodensee um den 70. Hochzeitstag zu feiern und da freue ich mich riesig drauf.

DOMRADIO.DE: Sind es oft ältere Menschen, die zu Fuß nicht zur Kirche kommen oder die wegen Corona jetzt nicht hingehen wollen, die Anliegen schicken?

Harttig: Oft ist es die Kindergeneration, die für die Eltern, die nicht können, um Kerzen bittet. Das ist ganz, ganz spannend, dass sie sagen, meine Oma würde sich freuen, meine Mutter würde sich freuen und ihr das Bild weitergeben und dann froh sind, wenn sie ein bisschen über die Kirche im Hintergrund wissen, wo das jetzt alles steht. Aber auch, dass Trauerfälle bei Twitter an mich herangetragen werden. Da ist ein Twitterer gestorben, dann kommt die Bitte, Christian mach heute Abend mal eine Kerze an.

Aber auch Krankheitsfälle oder Prüfungen die anstehen. Also das, was im normalen Leben die alte Frau in der Kirche wahrscheinlich auch anzündet. Und ich hab mir auch fest vorgenommen, immer kein Urteil über diese Anliegen zu fällen, weil ich nicht weiß, was die Frau da in der Kirche für ein Anliegen hat. Und ich nehme die einfach alle an.

DOMRADIO.DE: Was glauben Sie, was dahinter steckt, warum Menschen das Angebot, was sie haben, gerne annehmen?

Harttig: Ich glaube, weil ich mit einer Schweigepflicht punkten kann. Ich kann sagen, ich muss hier schweigen, ich darf hier Schweigen. Und eine gewisse Seriosität doch noch dranhängt. Und ein Urvertrauen in Kirche vielleicht doch noch da ist, dass sie nicht den letzten Deppen da hingesetzt haben und die Hände aufgelegt haben. Dass da jemand ist, der da irgendwie verantwortlich mit umgeht, der irgendwie Herz zeigt und, was glaube ich wichtig ist, dass ich auf Twitter nicht nur den "Diakon" raushängen lasse sondern den ganzen Menschen mitbringe und da echt persönlich bin, auch über meinen Alltag erzähle und einfach zum Anfassen bin.

Das Interview führte Dagmar Peters.

Information: Lesen Sie auch das Interview mit Christian Harttig zu seinem einjährigen Weihejubiläum in der Aachener Kirchenzeitung.


Christian Harttig (privat)
Christian Harttig / ( privat )
Quelle:
DR