Schmidt bei 7. Weltethosrede: Politik braucht Religion nicht

"Die Kirchen lassen sich benutzen"

Ein Atheist sei er nicht, aber auch nicht religiös. Das Verhältnis von Altbundeskanzler Helmut Schmidt zu Glauben und Kirche war stets gespalten. Eindeutig dagegen seine Meinung zum Umgang der Politik mit Religion. Noch immer: Als siebter Redner der Stiftung Weltethos des Theologen Hans Küng fand Schmidt deutliche Worte.

 (DR)


"Moralisch, aber auch politisch und ökonomisch enttäuscht"
Schmidt warb am Dienstagabend für eine in erster Linie von Vernunft geleitete Politik. Vernunft und nicht spezifische religiöse Bekenntnisse spielten in einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung die entscheidende Rolle, sagte der 88-Jährige in Tübingen. Er hielt dort auf Einladung des Gründers und Präsidenten der Stiftung Weltethos, des Tübinger Theologen Hans Küng, die siebte Weltethosrede. Von den Wirkungsmöglichkeiten der Kirchen sei er "moralisch, aber auch politisch und ökonomisch enttäuscht", sagte der evangelische Alt-Kanzler.

Nach den Worten Schmidts haben die Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg weder eine Neubegründung der Moral noch eine Neubegründung von Demokratie und Rechtsstaat geleistet. Der SPD-Politiker, der von 1974 bis 1982 Bundeskanzler war, bekannte sich trotz einer im Laufe der Jahre größer gewordenen Distanz zum Christentum zu seinem Verbleib in der Kirche. Sie setze Gegengewichte gegen den moralischen Verfall und biete vielen Menschen Halt, so der SPD-Politiker. Besonders kritisierte er im Christentum und in anderen Religionen eine "Tendenz zur Ausschließlichkeit" und forderte mehr Toleranz: "Unsere unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen müssen uns nicht hindern, zum Besten aller zusammenzuarbeiten."

Maxime des Friedens "unabdingbar"
Als für einen seriösen Politiker unabdingbar nannte Schmidt die Maxime des Friedens. Es beunruhige ihn sehr, dass die Gefahr eines weltweiten Zusammenpralls der Kulturen real geworden sei. Wer Frieden zwischen den Religionen wolle, müsse mit einer allein auf Vernunft ausgerichteten Grundhaltung religiöse Toleranz und Respekt predigen. Aus seiner Erfahrung habe er die Schlussfolgerung zogen, dass jedem Politiker zu misstrauen sei, der seine Politik zum Instrument seines Machtstrebens mache. "Halte Abstand von solchen Politikern, die ihre auf das Jenseits orientierte Religion und ihre diesseitige Politik miteinander vermischen", sagte der Altkanzler.

Bisherige Weltethos-Redner waren der britische Premierminister Tony Blair, die frühere UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan, Bundespräsident Horst Köhler, Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi und im vergangenen Jahr IOC-Präsident Jacques Rogge. Die Weltethosrede fand im Rahmen eines Expertentreffens des "Inter­ActionCouncils" früherer Staats- und Regierungschefs zum Thema Weltreligionen und Weltpolitik statt. Schmidt ist Ehrenvorsitzender dieses Gremiums und Küng wissenschaftlicher Berater sowie assoziiertes Mitglied. Die Vollversammlung des "Inter­ActionCouncils" soll vom 21. bis 23. Mai in Wien stattfinden.