“Der Roman basiert auf Interviews, die ich geführt habe”, erzählt Sasha Marianna Salzmann im DOMRADIO.DE Interview. “Es waren Interviews ausschließlich mit Frauen. Ich habe nicht gefragt, woran sie glauben oder nicht glauben, aber ich habe gefragt, was ist anders in unserem Denken?”. Sasha Salzmann, die 1985 in Wolgograd geboren und in Moskau aufgewachsen ist, erzählt in dem Roman, ‘Im Menschen muss alles herrlich sein’, die Geschichte von Tatjana und Lena und ihrer beiden Töchter. Die Mütter sind in der Sowjetunion, in einem korrupten, diktatorischen System aufgewachsen und nach der Wende nach Deutschland ausgewandert, wo die Töchter groß geworden sind. “Die Töchter wissen einfach nicht, was die Mütter erlebt haben”, erklärt Salzmann. “Und es bleibt auch eine große Frage, ob sie es wissen wollen. Können sie es ertragen, das zu wissen? Und können wir den Müttern unsere eigene Realität vermitteln? Das ist, glaube ich, übrigens eine universelle Frage. Das muss nicht unbedingt was mit Migration zu tun haben”.
Auch nach der Wende bleibt die Korruption
Die Mütter mit ihrer Sowjetkindheit und -jugend sind den Töchtern fremd. Da ist Lena, die nach der Wende zunächst in der Ukraine geblieben ist und dort als Ärztin auch ein ganz gutes Leben gehabt hat. “Denn sie kriegt viele Bestechungsgelder, Bestechungsgeschenke. Die neu erklärten Business-Männer der neu gegründeten Ukraine laden sie ein, so hat sie eigentlich ein gutes Leben”, sagt Salzmann über die Romanheldin Lena. “Dann aber, in den neunziger Jahren, erkrankt ihr Kind und für sie ist klar, sie kann niemanden retten, wenn es keine passenden Medikamente gibt, und die gibt es sie einfach in der Ukraine nicht. Das ist eine der Initialzündungen, um das Land zu verlassen. Dazwischen passiert ja dann noch ziemlich, ziemlich viel”.
Die Willkür der Mächtigen
Dazu kommen Probleme mit Männern. Der geliebte Mann läßt sie im Stich, sie heiratet aus der Not einen anderen Mann. Und da sind auch die Enttäuschungen, die aus der Zeit der Sowjetunion bei ihr nachwirken. Die junge Lena hatte damals durchaus an das Sowjetsystem geglaubt und auch daran, dass sie mit ihren guten Leistungen ihren Weg in dem System machen könne. “Die sozialistische Doktrin war, wie der Titel des Romans sagt, 'Im Menschen muss alles herrlich sein', das bedeutet: Tue dein Bestes und dann wird das Leben gelingen. Und sie tut ihr Bestes. Sie ist Klassenbeste, sie ist sehr fleißig, aber das hilft nicht. Sie kriegt keinen Studienplatz, weil alle anderen einen anderen Weg gehen. Also muss auch ihre Mutter einen anderen Weg gehen und eben über Bestechung Lena einen Studienplatz besorgen”.
Wie Korruption und Willkür das Vertrauen zerstört
Wie sehr die junge Lena unter den Betrügereien und der Korruption, unter der Willkür des sowjetischen Staates leidet, auch davon erzählt der Roman. Lena weiß nicht, an was sie noch glauben soll, wenn das staatliche System wilkürlich handelt, keinen Halt bietet und es keine Institution - auch keine Religion gibt, die sie auffängt. Wem kann die junge Lena da überhaupt noch vertrauen? “Wir wissen aus der psychotherapeutischen Forschung, wie wichtig es ist, am Anfang des Lebens Vertrauen zu lernen, um später darauf zugreifen zu können”, sagt Salzmann. “Wenn man das quasi als Kind nicht hatte, warum sollte man jetzt plötzlich ein Vertrauen entwickeln? Und das, was der Staat oder die Religionen dann sagen oder anbieten, ist dann fast zweitrangig”.
Die Skepsis gegenüber Obrigkeiten bleibt
Was bleibt, ist Verunsicherung und Leere, ein Vakuum und eine grundlegende Skepsis allen Obrigkeiten gegenüber, weil Lena in ihrer Kindheit und Jugend in der Sowjetunion den Staat als große Enttäuschung und korrupten Lügenstaat erlebt hat. ”Daraus kann dann so ein Verharren in Ungläubigkeit allem und allen gegenüber entstehen”, beobachtet Sazmann. “Das ist jetzt vielleicht ein Gedankensprung, aber wenn ich mir heute die Skepsis gegenüber staatlichen Verordnungen anschaue, wie wir sie in der Pandemie schmerzhaft erleben, hat das, glaube ich, durchaus etwas damit zu tun, dass man dem Staat misstraut. Weil und warum sollte man ihm glauben, er hat so viele Generationen auf dem Gewissen?”
Das Gegenüber genau anschauen
Wie schwer sich die Mütter Lena und Tatjana in Westdeutschland tun, auch davon erzählt Salszmanns Roman. Sie fühlen sich unbehaust, sie fühlen sich einsam. Ihre Töchter sind ihnen fremd. Und doch kann es Brücken auch zwischen den Generationen geben, die in so grundlegend anderen Welten aufgewachsen sind. “Ich versuche in diesem Roman zwei Generationen aufeinandertreffen zu lassen - mit allen ihren Schwierigkeiten, in allen ihren Konflikten”, sagt Salzmann, “weil ich glaube, dass der Versuch, sich genau anzuschauen, was denn die andere Person eigentlich wahrnimmt, der lohnt sich immer. Und wahrscheinlich sind wir auch deswegen hier auf der Welt. Wahrscheinlich ist das viel mehr sinnstiftend, als in dieser kompletten Einsamkeit, in diesem kompletten Individualismus unterzugehen”.