Rupert Neudeck befürwortet Dialog mit gemäßigten Taliban

"Man muss sich die Leute rauspicken"

Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisationen "Cap Anamur" und "Die Grünhelme", hat sich für einen Dialog mit gemäßigten Taliban in Afghanistan ausgesprochen. Der von US-Präsident Barack Obama angekündigte Strategiewechsel sei die einzige Möglichkeit, das Land zu befrieden, so Neudeck.

Autor/in:
Christoph Arens
 (DR)

KNA: Herr Neudeck, Barack Obama sucht nach einer neuen Afghanistan-Strategie und will unter anderem mit gemäßigten Taliban in einen Dialog treten. Halten Sie das für richtig?
Neudeck: Auch wenn die Bundesregierung das anders sieht, halte ich das für sehr vernünftig. Es ist sogar die einzige Möglichkeit, das Land wieder zu befrieden. Hinter dem Begriff Taliban, der ja eigentlich nur "Theologiestudent" bedeutet, verbirgt sich eine große Bandbreite von ganz unterschiedlichen Personen und Haltungen. Da gibt es Widerständler gegen eine Verwestlichung des Landes, Fundis, Oppositionelle, viele Wendehälse oder ganz einfach Kriminelle. Man muss sich Leute rauspicken, mit denen man reden kann.

KNA: Wer sollte das tun?
Neudeck: Wer als Dialogpartner geeignet ist, muss man jeweils vor Ort entscheiden. Das sollte in erster Linie eine Sache der afghanischen Regierung sein. Sie könnte damit auch gegenüber der eigenen Bevölkerung klarstellen, dass sie nicht eine Marionettenregierung der Amerikaner ist.

KNA: Wie hoch schätzen Sie den Anteil der radikalen Fundamentalisten?
Neudeck: Zahlen kann ich nicht nennen. Aber es sind viel weniger als wir gemeinhin meinen. Ich selber kenne einige der alten Warlords, die ich als ganz vernünftig einschätze. Und so manche alte Kämpfer sind zurückgekehrt, weil sie sich am Aufbau des Landes beteiligen wollen. Es gibt also durchaus Spielräume. Außerdem sind viele der gewaltsamen Übergriffe und Entführungen, die wir den Taliban zuordnen, einfach nur Ausdruck von Kriminalität.

KNA: Wo sehen Sie denn die Grenzen der Dialogbereitschaft? Muss man mit Leuten zusammenarbeiten, die Schulen für Mädchen schließen wollen?
Neudeck: Um Gottes willen, nein. Diejenigen, die Bildung für Mädchen verhindern wollen, sind wenige Fanatiker, die keinen Rückhalt in der Bevölkerung haben. Ich glaube, dass es mittlerweile in der afghanischen Gesellschaft eine weit verbreitete Einsicht gibt, dass Bildung für Jungen und Mädchen unerlässlich ist. Wir von der Hilfsorganisation "Grünhelme" haben mittlerweile 29 Schulen in Afghanistan gebaut. Und wir merken, mit welcher Begeisterung die Menschen dahinter stehen.

KNA: Dennoch: Von vielen westlichen Vorstellungen müssten wir uns wohl verabschieden, wenn es zur Beteiligung gemäßigter Taliban käme...
Neudeck: Unsere westliche Kultur und Demokratie ist ja nicht die einzige Lebensform. Vielleicht haben wir sogar den Fehler gemacht, zu viel Druck in dieser Richtung auszuüben, und die Menschen in ihrer Lebensweise verunsichert. Es ist nicht unsere Sache, vorzugeben, wie sich Frauen in Afghanistan kleiden. Die afghanische Gesellschaft hat viele eigene wertvolle Traditionen und Quellen der Kultur. Man muss dem Land ermöglichen, sich von innen her zu erneuern. Denken Sie etwa an die quasi demokratische Tradition der Stammesversammlungen "Loya Dschirga"; dass dabei die Frauen nicht beteiligt sind, müssen wir wohl vorerst akzeptieren. Das wird sich vermutlich nur sehr langsam ändern.

KNA: Was bleibt denn dann noch an Aufgaben für den Westen?
Neudeck: Wir müssen das tun, was wir für die Stabilisierung und Fortentwicklung der afghanischen Gesellschaft gut können: Wir müssen die Bildung fördern und die Wirtschaft des Landes mit aufbauen, also die Landwirtschaft, die Kleinindustrie, den Export. Das sieht übrigens Obama genau so.

KNA: Aber Obama will auch Truppen schicken...
Neudeck: Meiner Einschätzung nach haben wir viel zu viel Wert auf das Militär gelegt. Afghanistan braucht mehr Sicherheit. Das bedeutet aber, eine gut ausgebildete und gut bezahlte Polizei, die loyal zur Regierung ist. Der wachsende Einfluss der Taliban hat ja auch viel mit der Sehnsucht der Afghanen nach Ruhe und Ordnung zu tun. Die Menschen sind nach Jahrzehnten der Gewalt stark verunsichert und fühlen sich bedroht; die Taliban haben eine Zeit lang für Ordnung gesorgt, sich aber viele Sympathien durch ihren fundamentalistischen Terror verspielt. Eine starke Polizei wäre also ein gutes Mittel, um das Problem der Taliban zu verringern.