Rotkreuz-Präsident Seiters zur Lage in Syrien

"Größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg"

Krankenhäuser und Wohnviertel werden bombardiert - und die Welt sieht zu. Rudolf Seiters, den Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, macht der Blick auf Syrien rund sechs Jahre nach Kriegsbeginn traurig und wütend.

Hoffnungslosigkeit in Syrien (dpa)
Hoffnungslosigkeit in Syrien / ( dpa )

epd: Am 15. März geht der Syrien-Konflikt ins siebte Jahr. Wie ist die aktuelle Lage?

Seiters: Die Menschen leiden heute, sechs Jahre nach dem Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen, mehr als je zuvor. Das Land liegt in weiten Teilen in Trümmern, und mehr Menschen denn je wurden durch die Kämpfe um ihre Existenzgrundlage gebracht. Das hat zur Folge, dass inzwischen rund 13,5 Millionen Menschen innerhalb Syriens permanent auf humanitäre Hilfe angewiesen sind und damit mehr als die Hälfte der ehemaligen Gesamtbevölkerung des Landes. Mehr als vier Millionen Syrer sind inzwischen ins Ausland geflüchtet.

epd: Was wird in Syrien am dringendsten gebraucht?

Seiters: Nach wie vor ist die Lage in Syrien für die Menschen dramatisch. Es mangelt an allem, selbst die einfachen Grundbedürfnisse zu stillen, ist schwierig. Die Menschen stehen stundenlang vor der Bäckerei, um Lebensmittel zu erhalten. Das Deutsche Rote Kreuz leistet bereits seit 2012 humanitäre Hilfe im Syrien-Konflikt, es ist zugleich unsere größte Auslandsoperation.

epd: In welchen Gebieten kann das Rote Kreuz im Krieg überhaupt helfen?

Seiters: Unsere Schwesterorganisation, der Syrische Arabische Rote Halbmond, ist die einzige humanitäre Organisation, die landesweit tätig ist. Ein Großteil aller internationalen Hilfen wird über ihn abgewickelt. Er wird von den Konfliktparteien weitestgehend als neutrale und unparteiliche Organisation anerkannt und kann daher in von der Opposition wie von Regierungstruppen kontrollierten Regionen Hilfe leisten, erhält aber nicht immer in allen Gebieten Zugang.

epd: Gehen dann viele Familien leer aus?

Seiters: Beinahe fünf Millionen Menschen leben in belagerten oder nur schwer zu erreichenden Gebieten. Der Rote Halbmond leistet humanitäre Unterstützung für monatlich über vier Millionen Menschen in Syrien. Doch der Bedarf ist viel größer: Für rund neun Millionen Menschen besteht keine gesicherte Versorgung an Grundnahrungsmitteln.

epd: Wie gefährlich ist es für die Helfer?

Seiters: Der Einsatz ist häufig nur unter größter Lebensgefahr möglich. Schon 63 Helfer sind aufseiten des Roten Halbmondes seit Beginn des Konfliktes im Rahmen ihrer humanitären Arbeit ums Leben gekommen. Das ist eine erschreckende und traurige Zahl.

epd: Viel Empörung lösen immer wieder Angriffe auf zivile Ziele wie Krankenhäuser und der Einsatz von chemischen Waffen aus. Wie ist die aktuelle Situation?

Seiters: Wir stellen immer wieder massive Verletzungen des humanitären Völkerrechts fest, die teilweise systematisch und von unterschiedlichen Konfliktparteien verübt werden. Dazu zählen die gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur wie Krankenhäuser und Wasserversorgung. Aber auch Angriffe auf dicht besiedelte Wohnviertel, der Einsatz von Fassbomben oder die Verweigerung des Zugangs zu Wasser, Nahrung und medizinischer Hilfe als Kriegswaffe. Wir verurteilen jede einzelne dieser Taten auf das Äußerste.

epd: Was muss die internationale Gemeinschaft tun?

Seiters: Eine unserer wesentlichen Forderungen lautet: Alle Menschen in Syrien, insbesondere in belagerten oder schwer zugänglichen Gebieten, benötigen dringend permanenten Zugang zu humanitärer Hilfe. Alle Konfliktparteien müssen das humanitäre Völkerrecht achten und den Schutz der Helfer sicherstellen.

Natürlich beobachten wir mit großer Aufmerksamkeit die Verhandlungen zur Lösung des Konfliktes, so schwierig das alles sein mag. Die am 23. März geplante Wiederaufnahme der Friedensgespräche in Genf ist hier ein wichtiger Schritt. Denn eines ist klar: Die Beilegung dieses Konflikts kann nur mit politischen Mitteln nachhaltig gelingen. Zugleich ist es wesentlich, dass die - wenn auch bislang brüchige - Waffenruhe eingehalten wird.

epd: Etwas persönlicher gefragt: Was ist Ihre größte Enttäuschung mit Blick auf den Syrien-Konflikt?

Seiters: Für mich ist das Erschreckende: Vor den Augen der Weltöffentlichkeit vollzieht sich nun schon seit nunmehr sechs Jahren die größte humanitäre Katastrophe seit Ende des Zweiten Weltkrieges, ohne dass sich eine Lösung des Konfliktes abzeichnet. Das macht mich traurig und manchmal auch wütend. Mein Wunsch wäre, dass wir in Syrien an einen Wiederaufbau denken können, anstatt Not- und Überlebenshilfe zu leisten.

epd: Wie entwickeln sich die Spendeneinnahmen? Ist die Welt des Syrien-Konflikts überdrüssig?

Seiters: Im vergangenen Jahr lagen unsere Spendeneinnahmen für Hilfe im Syrienkonflikt bei rund 1,7 Millionen Euro. Wir gehen also nicht davon aus, dass die Spender des Themas "müde" sind. Die Hilfsbereitschaft ist durchaus vorhanden. Grundsätzlich stellen wir aber fest, dass die Spenden bei Naturkatastrophen sehr viel höher sind als bei bewaffneten Konflikten. Das liegt offenbar daran, dass viele Bürger die Betroffenen von Naturkatastrophen eindeutiger als "schuldlose Opfer der Lage" ansehen. Außerdem ist die politische Situation in Syrien ziemlich unübersichtlich.

Das Interview führte Elvira Treffinger.


Rudolf Seiters / © Peter Steffen (dpa)
Rudolf Seiters / © Peter Steffen ( dpa )
Quelle:
epd