Resümee von Wettbewerb und Preisen bei der 72. Berlinale

Beeindruckend am Jahrgang 2022 war insbesondere die Offenheit

Der Wettbewerb der diesjährigen Berlinale war stark besetzt. Viele Filme hätten Preise verdient gehabt. Zugleich offenbarten die Filmfestspiele ihren Anspruch, sich stets den Blick für das Neue zu bewahren.

Autor/in:
Marius Nobach
Die Silbernen Bären für die beste Hauptdarstellerin und das beste Drehbuch. Gewonnen von Schauspielerin Meltem Kaptan und Drehbuchautorin Laila Stieler. / © Jens Kalaene/dpa-Zentralbild (dpa)
Die Silbernen Bären für die beste Hauptdarstellerin und das beste Drehbuch. Gewonnen von Schauspielerin Meltem Kaptan und Drehbuchautorin Laila Stieler. / © Jens Kalaene/dpa-Zentralbild ( dpa )

Wenn der alte Mann einen Halt braucht, wandert er gern zu dem Feigenbaum auf dem Grund und Boden der Soles hinaus. Die ganze katalanische Familie von Pfirsichbauern kennt die Geschichte, die der Großvater noch immer oft hervorkramt: Wie mit diesem Feigenbaum als Geschenk der Gutsbesitzerfamilie Pinyol die Soles an das Land kamen, das sie noch Jahrzehnte später bewirtschaften. Einen Vertrag hat der Großvater nie unterzeichnet, weil er sich auf das Abkommen mit den Pinyols verlassen hat, doch das erweist sich nun als fatales Versäumnis. Das aktuelle Familienoberhaupt der Pinyols hat eigene Pläne mit dem Land, wo statt der Pfirsichplantage im großen Stil Solarplatten aufgestellt werden sollen. Für die Soles heißt das ein Ende ihres gewohnten Lebens zum Ende des Sommers, was innerhalb der großen Familie für Unruhe, Verzweiflung und Streit sorgt.

"Alcarras" als bester Film ausgezeichnet

Die 1986 geborene spanische Filmemacherin Carla Simon zeichnet in ihrem zweiten, mit Laien besetzten Spielfilm "Alcarras" nach, wie die Notlage alle drei Generationen der Großfamilie erfasst. Nach ihrem Spielfilmdebüt "Fridas Sommer" (2017) bewährt sich Simons Genauigkeit des Blicks und ihre humorvolle Pointierung auch bei dem einfühlsamen und liebevoll inszenierten "Alcarras", womit sie auch die Herzen der Internationalen Jury beim Wettbewerb der 72. Berlinale eroberte. 

Regisseurin Carla Simon mit dem Goldenen Bären für den Besten Film für «Alcarras» bei der Preisverleihung der Berlinale 2022 / © Monika Skolimowska/dpa-Zentralbild (dpa)
Regisseurin Carla Simon mit dem Goldenen Bären für den Besten Film für «Alcarras» bei der Preisverleihung der Berlinale 2022 / © Monika Skolimowska/dpa-Zentralbild ( dpa )

Bei der auf den Mittwoch vorgezogenen Preisverleihung im Berlinale-Palast erhielt die Regisseurin den Goldenen Bären, womit die Juroren um ihren US-Kollegen M. Night Shyamalan auch einem der markanten Trends des diesjährigen Wettbewerbs ihre Achtung zollten: Neben "Alcarras" hatten sich auch zwei weitere herausragende Beiträge mit detailgenauen Studien des harten bäuerlichen Landlebens auseinandergesetzt und dessen Auswirkungen auf menschliche Beziehungen gezeigt: der chinesische Film "Yin Ru Chen Yan" (Return to Dust) von Li Ruijun und "Drii Winter" des Schweizers Michael Koch. Beides wären ebenfalls würdige Bären-Kandidaten gewesen, Kochs Film war der Jury eine "Lobende Erwähnung" wert.

Hohe Qualität im Wettbewerb

Diese außerplanmäßige Würdigung lässt sich nicht nur als Anerkennung der hohen Qualität der "Landfilme" im Wettbewerb verstehen, unschwer ist sie auch als Versuch zu deuten, in einer starken Konkurrenz möglichst viele Filmemacher ehren zu können. So ging auch der Preis für eine "Herausragende künstlerische Leistung" nicht an den Ausübenden eines Filmgewerkes, sondern mit dem Kambodschaner Rithy Panh an einen Regisseur, für dessen dystopische Fabel "Everything Will Be Ok".

Mit seinem bestechenden, wenn auch ab und an ideenüberladenen Beitrag stand Rithy Panh für die Garde der arrivierten Filmkünstler im Wettbewerb, die sich bei der Preisverleihung mit jüngeren Filmschaffenden die Preise teilten. In gewohnt subtiler und ausgefeilter Form präsentierte sich auch der Südkoreaner Hong Sangsoo, der zum dritten Mal in Folge bei der Berlinale geehrt wurde: Nach dem Regiepreis 2020 und der Drehbuchauszeichnung im vergangenen Jahr gewann er diesmal mit seiner neuesten Arbeit "So-seol-ga-ui yeong-hwa" ("The Novelist's Film") den Großen Preis der Jury.

Vorderhand erzählt er die Geschichte von Künstlern, die in ihrem ureigenen Metier gescheitert sind oder es nur unter großen Kompromissen noch ausüben können. In ausführlichen Gesprächen bei Alkohol und Nudelsuppe kristallisiert sich allerdings nicht Weltschmerz heraus, sondern der Wille, sich weiterzuentwickeln und darin auch Chancen zu sehen.

Künstlerische Arbeit in Zeiten menschlicher Krisen

Innerhalb des Wettbewerbs, wo Hongs Film als letzter Premiere feierte, ließ sich so auch ein interessanter Bogen zur Eröffnung mit Francois Ozons Fassbinder-Hommage "Peter von Kant" herstellen, beides komplexe Auseinandersetzungen mit dem Künstlerwesen, die filmisch verhandeln, was die Berlinale unter dem Schatten der Corona-Pandemie generell auszustrahlen bemüht ist: Die belebende Kraft künstlerischer Arbeit und der Kultur in Zeiten menschlicher Krisen.

"The Novelist's Film" war dabei auch einer von nur zwei Wettbewerbsfilmen, in denen die Gegenwart der vergangenen zwei Jahre zumindest präsent war, wenn auch vor allem, um demonstrativ von Einschränkungen unbeeindruckte Erzählungen zu entwickeln. Auch die Französin Claire Denis wurde so für ihr Beziehungsdrama "Avec amour et acharnement" von der Jury ausgezeichnet, in dem die angespannte gesellschaftliche Situation nur umso heftigere emotionale Reaktionen bei den Hauptfiguren hervorruft.

Die entfalteten sich freilich auch jenseits von Corona-Szenarien, insbesondere in der überwältigenden Herzlichkeit im Zentrum von Andreas Dresens "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush", der neben dem Preis für Drehbuchautorin Laila Stieler auch für die beste Leistung in einer Hauptrolle ausgezeichnet wurde. In der Geschichte um die Inhaftierung des Deutschtürken Murat Kurnaz als vermeintlicher islamistischer Terrorist im US-Gefangenenlager Guantanamo und den Kampf seiner Mutter um seine Freilassung erwies sich die Besetzung mit der Stand-up-Komikerin Meltem Kaptan als entwaffnender Casting-Coup, an dem auch die Jury nicht vorbeikam. Ähnlich dominiert hatte einen Wettbewerbsfilm lediglich Michael Thomas als abgehalfterter Schlagersänger in Ulrich Seidls "Rimini", eines der preiswürdigen Werke, die bei der Preisverleihung nicht zum Zuge kamen.

Dabei hätte sich Seidls virtuoses Spiel mit abstoßenden und anziehenden Effekten durchaus eher für die drittwichtigste Wettbewerbsehrung, den "Preis der Jury", angeboten als die übermäßig verrätselte Studie der mexikanischen Gewalt-, Drogen- und Entführungsallgegenwart in Natalia Lopez Gallardos "Robe of Gems".

Preis der Ökumenischen Jury für Film zu Bataclan-Folgen

Schade auch, dass die feinsinnige Stimmungsmalerei des Franzosen Mikhael Hers in "Les passagers de la nuit" ohne Ehrung blieb, der nach den bemerkenswerten Vorgängerfilmen "Dieses Sommergefühl" (2015) und "Mein Leben mit Amanda" (2018) nun erstmals auch zu einem A-Festival-Wettbewerb mit seiner schwebenden Erzählweise und prägnanten Charakterzeichnung einen Höhepunkt beisteuerte. Eindrucksvoll präsentierte sich auch Isaki Lacuestas "Un ano, una noche" über Überlebende des Bataclan-Anschlags 2015 zwischen Verdrängung und Verarbeitungsversuchen des Traumas. Immerhin konnte das packende Drama den Preis der Ökumenischen Jury gewinnen.

Auch wenn die "Berlinale"-Jahrgänge 2021 und 2022 immer mit Blick auf die besondere Corona-Situation betrachtet werden müssen, sammelte das Leitungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian mit der Vielzahl preiswürdiger Filme weitere Überzeugungsarbeit für ihren Zugriff auf das Festival. Beeindruckend am Jahrgang 2022 - jenseits der Tatsache, dass die Berlinale überhaupt stattfinden konnte - war insbesondere die Offenheit, mit der sich das Festival dem Publikum vorstellte. Die 72. Berlinale offenbarte sich als Veranstaltung mit dem festen Willen, sich stets den Blick für das Neue zu bewahren.

Quelle:
KNA