Renovabis-Schulprojekt über Osteuropa 20 Jahre nach der Wende

Wie habt ihr das erlebt?

"Die sind alle arm, klauen Autos, nehmen uns die Arbeitsplätze weg, betreiben Lohndumping." Nur einige der gängigsten Vorurteile gegenüber Menschen in Osteuropa unter Schülern. Das Renovabis -Projekt "20 Jahre Wende - Der Osten Europas und wir" soll das Bild nun gerade rücken.

Autor/in:
Anja Kordik
 (DR)

Ein wenig "aufgedrückt" hat Claudia Knuth ihren Schülern das Thema. "Ich habe ihnen das Renovabis-Schulprojekt kurz vorgestellt und gesagt: Es geht um 20 Jahre Wende und Osteuropa - wir machen das jetzt!" Die 47-Jährige ist Lehrerin für Mathematik und Praktische Philosophie an der Theodor-Heuss-Realschule in Dortmund. Bis Ende November beteiligt sich die Schule an einem bundesweiten Pilotprojekt, das das katholische Osteuropahilfswerk Renovabis unter dem Titel "20 Jahre Wende - Der Osten Europas und wir" initiiert hat. Neben den Dortmunder Jugendlichen nehmen weitere 200 Schüler der Klassen 8 bis 13 an einem Mädchengymnasium in Bonn und einen Gymnasium im brandenburgischen Neustift teil.

In Knuths Philosophie-Kurs sitzen zum großen Teil muslimische Schüler mit türkischem Hintergrund, aber auch Schüler, deren Eltern in der ehemaligen DDR geboren wurden, daneben einige armenisch- und polnisch-stämmige Jugendliche. Eine relativ bunt zusammengesetzte Gruppe also, mit der es nicht immer einfach sei, zusammen zu arbeiten, sagt die Lehrerin. "Aber ich dachte mir, das ist mal ein anderer, spannender Ansatz." Sie planen eifrig Interviews in ihren Familien und bei Freunden, auf der Straße, in Altenheimen und Kirchengemeinden. In Bonn und Neustift fragen Schüler bei der Polizei oder einer Gruppe der Freiwilligen Feuerwehr im deutsch-polnischen Grenzgebiet nach. Andere wollen gar beim Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF über "Straßenkinder in Russland" recherchieren.

"Die sind alle arm, klauen Autos, nehmen uns die Arbeitsplätze weg, betreiben Lohndumping - das sind gängige Vorurteile gegenüber Menschen in Osteuropa", so Projektleiter Gerd Felder. 20 Jahre nach der Wende solle sich dieses Bild in den kommenden Wochen wandeln. Den Ideen der Schüler bei der Themenauswahl und Themenumsetzung seien keine Grenzen gesetzt. Gedacht sei etwa auch an Reportagen, Foto-Collagen, Zeichnungen und Gedichte. Daneben sind Aktionen in den Städten geplant, um eine breitere Öffentlichkeit zu ereichen. Zum Abschluss sollen die entstandenen Beiträge der Schüler in ein Buch einfließen.

Erschreckendes Nicht-Wissen
Ein "erschreckendes Nicht-Wissen" über die Zeit der Wende hat Knuth bei ihren Jugendlichen ausgemacht. Deshalb gab es erst mal einen Film. "Jenseits der Mauer", ein Drama über Zwangsadoptionen in der ehemaligen DDR mit anschließender Dokumentation, stand auf dem Plan. "Und ich muss sagen, nachher waren alle sehr beeindruckt." Hier konnten sie sehen, dass es sich nicht um irgendwelche historischen Ereignisse handelt, sondern, dass die Menschen, denen das widerfahren ist, heute noch leben.

Lehrerin Irene Kobsa-Liebegut lehrt in Dortmund evangelische Religion. Auch sie hat in ihrem Kurs eine Schülerin aus der Ukraine, eine aus Moldawien und etliche Schüler mit polnischen Wurzeln. In Gesprächen mit den Mädchen und Jungen hat Kobsa-Liebegut festgestellt, dass bei ihnen vieles "im Untergrund" arbeitet, was sie von ihren Eltern bruchstückhaft über die Zeit der Wende erfahren haben: "Da kommen manchmal Geschichten hoch wie: 'Mein Vater ist drei Tage vor dem Mauerfall noch verhaftet worden!'"

Manche Schüler sehen in dem Projekt auch die Chance, mehr über ihre Eltern zu erfahren. So wie die 15-jährige Jasmin, die ihre aus Erfurt stammende Mutter "über früher" befragen will: "Sie sagt immer, dass sie dort eine schöne Kindheit hatte, aber wie hat sie das erlebt?" Oder die 14-jährige Tatjana, die mit Mutter und Vater eine Nostalgie-Tour nach Leipzig plant: "Mein Onkel lebt da und hat mir von der Wendezeit erzählt. Jetzt möchte ich hinfahren und dort auch mit anderen Leuten reden." So bietet das Renovabis-Projekt einer erst nach der Wende geborenen Generation Gelegenheit, nicht nur ein Stück Zeitgeschichte, sondern auch die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten.