Reaktionen von Betroffenen auf Münchner Missbrauchsgutachten

"Man fällt vom Glauben ab"

Das neue Gutachten zu Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising hat ein vielfaches Echo ausgelöst. Wie es Betroffene aufgenommen haben.

Autor/in:
Christoph Renzikowski
Plakat mit der Aufschrift Fragt die Betroffenen (Archiv) / © Julia Steinbrecht (KNA)
Plakat mit der Aufschrift Fragt die Betroffenen (Archiv) / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Der Münchner Kardinal Reinhard Marx hat in einer ersten Reaktion auf das Missbrauchsgutachten ein deutliches Signal an die Betroffenen gesendet. Ihnen gelte sein erster Gedanke, er bitte um Entschuldigung, Begegnungen mit ihnen hätten für ihn persönlich "eine Wende" bewirkt: "Sie haben meine Wahrnehmung der Kirche verändert und verändern diese auch weiterhin." Wie haben Betroffene die Botschaften dieses denkwürdigen Donnerstags aufgenommen?

Kritik an Ratzinger

Robert Köhler (Ettaler Misshandlungs- und Missbrauchsopfer e.V.) / © N.N. (privat)
Robert Köhler (Ettaler Misshandlungs- und Missbrauchsopfer e.V.) / © N.N. ( privat )

Robert Köhler vom Verein Ettaler Missbrauchsopfer nahm zunächst Anstoß an den Einlassungen des früheren Papstes Benedikt XVI. "Vom Glauben fällt man ab, wenn Joseph Ratzinger, der immerhin von 1982 bis 2005 als Chef der Glaubenskongregation zuständig für den Umgang mit Missbrauchsvorwürfen weltweit war, aktuell verkündet, dass Missbrauchshandlungen ohne Berührung nicht von Relevanz waren."
Köhler erinnerte daran, dass die von Ratzinger geschilderte Tat bereits damals vom deutschen Strafrecht als sexueller Missbrauch gewertet wurde, für den man "mindestens sechs Monate einsitzen muss".
Benedikt schreibe so, "als wären nackte Priester mit Pornoheften neben Kindern ein duldbarer Umstand". Das System Kirche stellt sich für den Ingenieur so dar: "Den Vorgängern sind alle in Ehrfurcht verbunden, keiner darf vom Thron gestoßen werden, auch wenn er die Fortsetzungen von sexuellem Kindesmissbrauch durch sein Handeln begünstigt oder ermöglicht hat." Auch Papst Franziskus sei darin gefangen.
Verantwortlichen, die falsch gehandelt hätten, legte Köhler eine spezielle Form der Buße nahe. Sie sollten sich mit Geschädigten treffen und das aushalten. Das Erzbistum München und Freising habe nun die Chance, "an gutem Beispiel zu zeigen, wie man glaubwürdig mit Betroffenen und auch Gemeinden, in denen Missbrauch stattfand, umgehen kann". Die "demütige Ansprache" des Kardinals sei dafür eine "gute Basis".

Als Elfjähriger missbraucht

Dem Fall des Wiederholungstäters Peter H. widmet das Gutachten einen Sonderband von 370 Seiten. Der Gelsenkirchener Wilfried Fesselmann, der von dem Essener Diözesanpriester als Elfjähriger 1979 missbraucht wurde, verfolgte die Pressekonferenz mit den Anwälten live im Fernsehen und war "richtig euphorisch", wie er der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) sagte, "dass das alles mal an die Öffentlichkeit gekommen ist". Marx habe ihn 2008 "mundtot" machen wollen. Der Kardinal wie überhaupt alle Bischöfe müssten nun eigentlich zurücktreten, schließlich hätten sie Tausende von Straftaten mitbegünstigt. "Das wäre für mich mal ein richtiges Zeichen".
In Garching an der Alz, der letzten Pfarrstelle von Peter H., haben sich vor zwei Jahren Gemeindemitglieder zur "Initiative Sauerteig" zusammengeschlossen. Darunter auch ehemalige enge Weggefährten des vorbestraften Priesters, über dessen Vorleben man sie im Unklaren gelassen hatte. Für die Betroffenen müsse nun eine großzügige und einfach zugängliche Wiedergutmachtung auf den Weg gebracht werden, heißt es in einer "Sauerteig"-Stellungnahme, über die das Portal mk-online.de berichtet. Auch alle betroffenen Pfarreien müssten "unabhängig begleitet" werden. Das Gutachten werde hoffentlich weitere Betroffene ermutigen sich zu melden.

Neue Anlaufstelle

Münchner Missbrauchsgutachten / © Sven Hoppe/DPA-Pool (KNA)
Münchner Missbrauchsgutachten / © Sven Hoppe/DPA-Pool ( KNA )

Das Erzbistum nahm noch am Donnerstag eine mit sechs psychotherapeutisch geschulten Fachkräften besetzte neue Anlaufstelle in Betrieb. Die Rufnummer lautet (0 89)2137 77 000.
Mit dem diözesanen Betroffenenbeirat kamen ebenfalls noch am Donnerstag Generalvikar Christoph Klingan und Amtschefin Stephanie Herrmann zusammen. Drei Stunden dauerte das Gespräch, berichtete Beiratsmitglied Richard Kick der KNA. Und dass sein Gremium große Hoffnungen in die beiden als "Stütze der künftigen Aufarbeitung" setze. Sie seien "noch jung an Lebens- und Dienstjahren" und hätten daher "selbst keine Vergangenheit aufzuarbeiten".
Kick wünscht sich jetzt "ein wirklich proaktives Zugehen auf Betroffene". Vor zwölf Jahren sei er mit einer ersten Gruppe von Leidensgenossen zu einem Gespräch mit Marx persönlich in dessen Palais eingeladen worden. Dieser habe sich seither aber nicht mehr bei ihm gemeldet. Warum, fragte ihn Kick kürzlich. Darauf Marx: Ihm habe niemand gesagt, dass er die Betroffenen nochmal kontaktieren solle. "Das ist doch ein Armutszeugnis menschlicher Art", sagt Kick dazu.

Keine Hoffnung auf innerkirchliche Aufarbeitung

Der Trierer Betroffenenverein "Missbit" setzt indes in die innerkirchliche Aufarbeitung keine Hoffnungen mehr. Das neue Gutachten zeige einmal mehr, dass nun die Politik gefordert sei, sagt der Vorsitzende Thomas Schnitzler. Der Bundestag müsse eine gesetzliche Grundlage für eine staatliche Aufarbeitung schaffen, fordert auch der Betroffene Timo Ranzenberger. Der hatte 2021 einen Missbrauchsfall im Bistum Trier öffentlich gemacht, in dem auch Marx als damaligem Bischof Versäumnisse angelastet werden. Ranzenberger lebt inzwischen in Oberbayern und ist von der ersten Reaktion des Kardinals enttäuscht. Dass dieser "erschüttert und beschämt" sei, das klingt für Ranzenberger nach "leeren Worthülsen".

Quelle:
KNA