Psychologe Grünewald über die aufgewühlte Gesellschaft in Deutschland

"Wir haben unseren inneren Kompass verloren"

In Deutschland herrschen Frieden und Wohlstand. Trotzdem macht sich in den letzten Jahren eine Unzufriedenheit breit, die oft sogar in Hass umschlägt. Woran liegt das? Der Psychologe Stephan Grünewald beobachtet die Seelenlage der Nation.

 (DR)

DOMRADIO.DE: Ihr Buch basiert auf zahlreichen Interviews. Sie haben Menschen aus allen Alters- und Bevölkerungsschichten in ihrem Institut auf die Psychologencouch gebeten. Was waren das für Interviews, die sie da geführt haben?

Stephan Grünewald (Psychologe und Gründer des Rheingold Instituts in Köln): Bei Rheingold erstellen wir im Jahr ca. 200 Forschungsprojekte für Medien, Industrie, öffentliche Träger, Stiftungen und die Welthungerhilfe und UNICEF. Da wir zwei Stunden mit den Menschen ganz intensiv reden, erfahren wir viel über ihren Alltag, über ihre Sehnsüchte und ihre Ängste. Alle sechs, sieben Jahre schreibe ich ein Buch, in dem ich so ein Psychogramm der deutschen Befindlichkeit erstelle.

DOMRADIO.DE: Muss man das aus den Menschen herauskitzeln oder kommt das von ganz alleine?

Grünewald: Wir haben ja immer ein Thema: Wie sieht das Medienverhalten aus? Warum präferiert man eine bestimmte Partei? Nimmt man Margarine oder Butter? Und darüber erfahren wir, wie der Alltag so funktioniert. Die Menschen sind froh, dass sie keinen Fragebogen abarbeiten müssen, sondern dass da jemand sitzt, der sich für ihr Leben interessiert.

DOMRADIO.DE: Es gibt so eine gewisse Unzufriedenheit, die in der Gesellschaft zu spüren ist. Oft wird das Bild erzeugt, in Deutschland sei es lange Zeit relativ ruhig gewesen, bis dann 2015 die Flüchtlingskrise kam und daraus wurde dann die "Mutter aller Probleme", wie Horst Seehofer einmal gesagt hat. Ist das richtig?

Grünewald: Nein. Die Flüchtlingskrise war der Blitzableiter vieler Probleme, die vorher da waren. Und ich beschreibe im Buch die Quellen der Wut. Beispielsweise beobachten wir, dass viele Menschen das Gefühl haben, die gesellschaftlichen Eliten gucken so mit argwöhnischer Arroganz auf den gemeinen Menschen, der immer noch Alkohol trinkt, Zigaretten raucht, Fleischberge auf den Grill hievt, Diesel fährt, Unterschichts-TV guckt und Süßspeisen ist. Und dieser arrogante Blick signalisiert den Menschen: So wie du lebst, lebst du verkehrt. Das heißt, das Solidarprinzip, das wir jahrzehntelang in der Gesellschaft hatten, dass die Stärkeren den Schwächeren helfen, dass die Eliten überlegen, wie man eine Bildungsoffensive starten kann, wie soziale Gerechtigkeit funktioniert, haben wir nicht mehr. Der schwarze Peter der Veränderung wird auf die abgeschoben, die nicht diesen moralischen Standards genügen.

DOMRADIO.DE: Wir denken also in erster Linie an uns.

Grünewald: Wir denken an uns und haben so ein bisschen diesen Gemeinsinn verloren. Und viele Menschen fühlen sich wirklich nicht gewertschätzt, weil auch sie im Alltag erleben, dass sie Geld erspart haben, für das sie sauber gearbeitet haben, das aber keine Zinsen mehr abwirft. Zinsen sind auch ein Ausdruck von Wertschätzung. Die große Sorge: Kann ich mir den Wohnraum in den Innenstädten noch leisten? Habe ich überhaupt ein Bleiberecht? Bin ich Willkommen in der Stadt? Bis hin zu der Frage: Ist durch die Digitalisierung irgendwann mein Arbeitsplatz obsolet? Werde ich als Mensch mit meiner Schaffenskraft überhaupt noch gebraucht?

DOMRADIO.DE: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Welt sich für viele Menschen aufteilt – in ein privates Auenland und in ein bedrohliches Grauenland. Wie meinen Sie das?

Grünewald: Wir haben unsere Wirklichkeit buchstäblich aufgespalten. Das, was uns behagt, wie der Wohlstand, verorten wir im Auenland und all das, was uns Missbehagen, was uns Angst bereitet, wie die Globalisierung, die Digitalisierung, die Migration und der Klimawandel, schieben wir ins Grauenland ab. Dadurch sind wir aber nicht mehr entwicklungsfähig, weil wir an die die Zukunft und all das, was unseren Horizont überschreitet, nicht mehr ranwollen. Es gibt eine große Tendenz, sich saturiert abzuschotten.

DOMRADIO.DE: Es Leben also viele Menschen mit Scheuklappen.

Grünewald: Es leben viele Menschen mit Scheuklappen. Hinzukommt, dass wir mit dem Smartphone erleben, dass wir ein zusätzliches Körperteil haben. Unser Auenland gibt uns auf einmal das Gefühl, wir sind mit Smartphone allmächtig, wir haben den magischen Zeigefinger, im Handstreich können wir die Welt beherrschen, wir sind potenziell quasi allwissend und wir können selbst Partner über das Smartphone finden. Prozesse, die früher mühselig und beladen waren, gehen jetzt buchstäblich im Fingerwisch.

Und dadurch schwindet die Duldsamkeit im Alltag, weil die Menschen merken, die digitale Allmacht erhält sich nicht: Der normale Alltag ist immer noch kleinschrittig und widersprüchlich. Wir haben immer noch Partner, die wir nicht verstehen und Chefs, die uns drangsalieren. Das wird aber nicht als gottgegeben und natürlich hingenommen, sondern als ungeheure Kränkung. Und dieses Kippen aus der digitalen Allmacht in die analoge Ohnmacht erzeugt bei vielen Menschen wieder Wut. Geht es nicht schneller, geht es nicht sofort. Die Demut ist verloren gegangen.

DOMRADIO.DE: Spielt bei diesem Kippen auch der Verlust einer gewissen Geborgenheit eine Rolle, die man vielleicht durch den Glauben hatte?

Grünewald: Wir haben unseren inneren Kompass verloren. Nicht nur, dass viele Menschen den Glauben verloren haben, auch die ideologische Verankerung, die Programmatik einer Partei oder ein Wertegerüst ist die letzten dreißig Jahre sukzessiv abgebaut worden. Diese Entideologisierung, diese Entwertung hatte anfangs eine rauschhafte Qualität. Wir hatten das Gefühl, jetzt sind wir frei und von der Knute der Moral oder der Ideologie befreit.

Aber aus dieser coolen Gleichgültigkeit, in die wir uns reinentwickelt haben, ist eine entfesselte Beliebigkeit geworden. Und viele Menschen fühlen sich wirklich orientierungslos im Alltag. Und für manche ist dann die nächstbeste Verschwörungstheorie, die nächstbeste Idee, die nächstbeste Lüge besser als die Komplexität der Wahrheit, weil uns die Lüge verspricht, wieder festen Grund unter die Füße zu bekommen.

DOMRADIO.DE: Was raten Sie der deutschen Gesellschaft als Psychologe? Wie kriegen wir das wieder unter Kontrolle?

Grünewald: Erstmal ist es, glaube ich, wichtig zu akzeptieren, dass wir auch im 21. Jahrhundert nicht allmächtig sind. Wir sind behinderte Kunstwerke und gerade wenn wir uns eingestehen, dass wir nicht perfekt sind, dass wir kleine Macken haben, macht uns das gerade sympathisch. Das macht uns entwicklungstauglich. Und das hilft uns auch zu akzeptieren, dass wir andere Menschen als Ergänzung brauchen.


Stephan Grünewald, Psychologe und Leiter des Marktforschungsinstituts Rheingold / © Henning Kaiser (dpa)
Stephan Grünewald, Psychologe und Leiter des Marktforschungsinstituts Rheingold / © Henning Kaiser ( dpa )
Quelle:
DR