Psychiater Lütz gibt Einführung in die Psychowelt

"Unser Problem sind die Normalen"

Für einen gelasseneren Umgang mit psychisch Kranken und Auffälligen in der Gesellschaft wirbt der Kölner Psychiater und Theologe Manfred Lütz in seinem neuen Buch "Irre - Wir behandeln die Falschen". Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) sagt der Bestseller-Autor, das beste Gespräch für einen psychisch Kranken sei aber nicht das Gespräch "mit uns Psychos", sondern mit ganz normalen Menschen.

 (DR)

KNA: Herr Dr. Lütz, Sie behaupten im Titel des Buches, dass die Falschen therapiert werden. Warum sind die Normalen das Problem?
Lütz: Die Idee zu dem Buch kam mir, als ich mal wieder über Tag in meinem Krankenhaus mit all diesen sensiblen, liebenswürdigen Patienten zu tun hatte, feinfühligen Süchtigen, rührenden Dementen, erschütternd Depressiven und hinreißenden Manikern und dann abends die Tagesschau sah: Da war die Rede von brutalen Kriegshetzern, rücksichtslosen Wirtschaftskriminellen, eiskalten Egomanen - und die behandelt bekanntlich niemand. Und da kam mir der ketzerische Gedanke: Vielleicht sind unser Problem gar nicht die "Verrückten". Unser Problem sind die Normalen!

KNA: Braucht unsere Gesellschaft mehr Narren und Verrückte?
Lütz: Gott bewahre, nein! Der ganz normale Wahnsinn hat in unseren Zeiten schon genug Opfer gekostet, und der ganz normale Blödsinn mit seinen hirnrissigen Comedyshows hat schon genug Witzmüllhalden produziert...

KNA: Das ist aber nicht das zentrale Thema Ihres Buches...
Lütz: Im Ernst, es geht in meinem Buch einerseits um die Tyrannei der Normalität, die uns inzwischen alle in Meinungsuniformen presst und mit Hilfe der political correctness vorschreibt, was wir sagen müssen und was wir nicht sagen dürfen. Andererseits ist das Buch eine allgemeinverständliche Einführung in die gesamte Psychowelt.
Was Magersucht ist, das weiß inzwischen - Gott sei Dank - jeder. Aber was eigentlich eine Schizophrenie ist, das weiß keiner, dabei ist das eine viel häufigere Erkrankung. Ich habe das Buch vorher von Deutschlands bekanntesten Psychiatern lesen lassen und auch von unserem Metzger - und die haben das alle verstanden.

KNA: Kann man überhaupt definieren, was psychisch krank und was gesund ist?
Lütz: Als ich in der Psychiatrie anfing, sagte mir ein gut katholischer Psychiater, was ihn am heiligen Franz von Assisi so beeindrucke sei, dass der so gut mit seiner Schizophrenie umgegangen sei. Immerhin hatte der ja das kaputte Kirchlein San Damiano eigenhändig wieder aufgebaut, weil es ihm die Stimme Jesu vom Kreuz geboten hatte. Erst war ich geschockt, doch dann wurde mir klar, dass die Psychiatrie hier entschieden ihre Grenzen überschreitet.

Diagnosen sind keine Erkenntnisse an sich, sondern sie haben ausschließlich den Zweck der Therapie für leidende Menschen. Franz von Assisi war zunächst einmal nur außergewöhnlich und er hatte außergewöhnliche Erlebnisse, doch gelitten hatte er darunter nicht.

Und er war auch nicht in seiner Kommunikationsfähigkeit mit anderen Menschen so eingeschränkt, wie das Schizophrene oft sind. Ganz im Gegenteil. Er hatte eine so positive Ausstrahlung, dass noch heute Zehntausende der Armutsregel des heiligen Franz folgen. Franz von Assisi war gewiss außergewöhnlich, aber er war ganz sicher berstend gesund.

KNA: Was macht einen guten Therapeuten überhaupt aus?
Lütz: Nicht jeder Therapeut ist für jeden Patienten gut. Deswegen macht man Probesitzungen, um festzustellen, ob "die Chemie stimmt". Ich bekomme oft Anrufe von Menschen, die einen "christlichen Therapeuten" suchen. Ich antworte dann immer: Sie brauchen keinen christlichen Therapeuten, sie brauchen einen guten Therapeuten. Und den sollte man sich nicht allzuweit weg suchen. Denn je weiter die Entfernung, desto mehr hält sich der Patient für ein ganz kleines Würstchen vor dem großen Guru.

KNA: Die Einstellungen des Therapeuten spielen keine so große Rolle?
Lütz: Die meisten Therapeuten sind heute seriös ausgebildet und weniger ideologisch als noch vor 30 Jahren. Am besten lässt man sich von seinem Hausarzt zu dem Psychiater überweisen, mit dem der normalerweise zusammenarbeitet. Und dem sollte man dann meinetwegen sagen: Ich bin katholisch und möchte das gerne bleiben, können Sie damit umgehen? Ein seriöser Therapeut wird dann etwa antworten: Ich bin aus der Kirche ausgetreten, mich macht dieser ganze Laden aggressiv, gehen Sie besser zum Kollegen. Ein anderer mag sagen: Ich bin nicht getauft, komme aus der ehemaligen DDR, aber Depressionen behandeln, das kann ich. Da kann man getrost einen Therapieversuch machen.

KNA: Neigt man als Therapeut nicht dazu, in jedem Menschen Krankheitssymptome zu entdecken?
Lütz: Das wäre ganz unseriös. Im Zweifel ist ein Mensch gesund. Wer aus jeder Träne gleich eine Depression macht, treibt Menschen ins Unglück. Allerdings gibt es heute manchmal eine etwas hysterisierte öffentliche Atmosphäre. Der bekannte Psychiater Klaus Dörner hat einmal über etwa ein halbes Jahr zusammengerechnet, wieviel Prozent der Deutschen angeblich psychotherapiebedürftig krank seien, wie viele hätten Panikattacken, Anpassungsstörungen, Belastungsstörungen etc. Dabei kam heraus: Über 210 Prozent der Deutschen seien psychotherapiebedürftig krank. Bei aller Liebe, wir müssen die Kirche im Dorf lassen.

KNA: Wann können Sie als Psychiater von einer erfolgreichen Behandlung reden?
Lütz: Wenn man Leid gelindert oder beseitigt hat. Die Psychiatrie hat von allen medizinischen Disziplinen in den vergangenen Jahrzehnten die größten Fortschritte gemacht. Das haben viele Menschen noch gar nicht mitbekommen. Man kann schwerste psychische Störungen heute vergleichsweise schnell heilen oder lindern. Wir brauchen da viel mehr Aufklärung, und deswegen habe ich dieses Buch geschrieben. Es ist gedacht für ein Drittel der Deutschen, die irgendwann in ihrem Leben eine psychische Störung erleiden - und für die anderen zwei Drittel, von denen jeder irgendeinen psychisch kranken Angehörigen hat.

KNA: Die Verweildauer in psychiatrischen Einrichtungen ist stark gesunken, Kranke leben oft in Wohngruppen mitten unter den Leuten. Wohin entwickelt sich die Psychiatrie?
Lütz: Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr gute Therapiemöglichkeiten entwickelt. Das hat aber in der Öffentlichkeit bisweilen den falschen Eindruck entstehen lassen, dass man mindestens eine Universitätsausbildung braucht, um einen Schizophrenen mal nach dem Bahnhof zu fragen. Wir brauchen wieder einen ganz normalen Umgang mit psychisch Kranken oder Auffälligen in unserer Gesellschaft. Denn das beste Gespräch für einen psychisch Kranken ist nicht das Gespräch mit uns "Psychos", sondern mit Metzgern, Bäckern, Verkäuferinnen, also mit normalen Leuten. Nur wenn das krankheitsbedingt vorübergehend mal nicht geht, dann braucht er uns, damit diese normalen Gespräche möglichst bald wieder möglich sind, Gespräche mit Metzgern, Bäckern, Verkäuferinnen und mit Ihnen, Herr Arens.

Das Interview führte Christoph Arens.