Politiker und Experten hoffen, dass die umstrittene Widerspruchsregelung das Problem der in großem Umfang fehlenden Organspenden löst. Dann wäre jeder, der nicht zu Lebzeiten ausdrücklich widerspricht, ein möglicher Spender. Der Humangenetiker Wolfram Henn von der Universität des Saarlandes und Mitglied des Ethikrates wirbt für diese Neuregelung. Eine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechtes vermag er nicht zu erkennen. Kevin Schulte, Mediziner an der Klinik für Nieren- und Hochdruckkrankheiten des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Kiel, lehnt die Widerspruchslösung dagegen ab. Hauptproblem sei es, dass die möglichen Organspender in den Kliniken nicht erkannt würden. Hier die Argumente:
PRO (Wolfram Henn)
Sowohl nach der Zustimmungs- als auch nach der Widerspruchsregelung steht jedem Menschen zu Lebzeiten das uneingeschränkt nach seinem Tode fortwirkende Recht zu, über die Verwendung seiner Organe für Transplantationen zu bestimmen.
Es gelingt mir nicht, in dieser Reform eine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts zu erkennen, denn auch in anderen Lebensbereichen gilt, dass jemand, der sich nicht aktiv äußert, allgemeinen Regeln unterliegt - so etwa jemand, der darauf verzichtet, ein Testament über seinen materiellen Nachlass abzufassen.
Nach meiner Auffassung von mündigen Bürgerinnen und Bürgern ist es ethisch nicht bloß akzeptabel, sondern geboten, den Verzicht auf ein ablehnendes Votum durch den verstorbenen Menschen zu dessen Lebzeiten und auch durch seine Angehörigen nach dessen Tode als Akzeptanz zu bewerten.
In der Güterabwägung darf aus meiner Sicht nur ein klar geäußertes Nein dazu führen, einem transplantationsbedürftig kranken Menschen die Chance auf ein neues Leben zu nehmen. Das gilt aber nur in einem Umfeld inhaltlich ausgewogener Aufklärung und niederschwellig zugänglicher Möglichkeiten zur Festlegung. Hier gibt es noch einige, teils sogar simple Verbesserungsmöglichkeiten. Nur ein Beispiel: In der Vorbereitung auf die Führerscheinprüfung sollte nicht nur ein Erste-Hilfe-Kurs, sondern auch eine Informationsveranstaltung zur Organspende obligatorisch sein.
KONTRA (Kevin Schulte)
Der Nachteil der Widerspruchslösung, dass erstmalig aktives Handeln notwendig wäre, um stets die Selbstbestimmung über seinen eigenen Körper zu behalten, wird ebenso mit den mutmaßlich geretteten Leben gerechtfertigt wie der Hinweis, dass die Widerspruchslösung die bislang altruistische Spende zu einem normativen Akt abwerten würde.
Ein Blick auf die Ursachen des Spendermangels lässt an dieser Rechtfertigung zweifeln: Unser Hauptproblem ist, dass der überwiegende Anteil der möglichen Organspender in den Kliniken nicht erkannt wird. In diesen Fällen stellt sich die Frage gar nicht, ob der betreffende Patient mit einer Organspende einverstanden gewesen wäre.
Wie in einer Studie gezeigt wurde, könnte die Anzahl der Organspender unter den aktuellen gesetzlichen Rahmenbedingungen verdreifacht werden, wenn alle Organspender erkannt würden. Abgesehen davon sollte man sich in der Diskussion vor Augen führen, dass das theoretische Potenzial der Widerspruchslösung gering ist. Bereits heute erfolgt in 76 Prozent der Fälle eine Zustimmung zu einer Organspende, wenn der Hirntod diagnostiziert wurde. Da 16 Prozent der Bevölkerung nach ihrem Tod keine Organspender werden wollen, ist selbst im Bestfall nur eine Steigerung der Zustimmungsrate um wenige Prozent zu erwarten.
Kurzum: Anstatt die Widerspruchslösung einzuführen, sollten wir uns um den Kern des Problems kümmern und dafür sorgen, dass mögliche Organspender erkannt werden und diejenigen, die nach ihrem Tod ihre Organe spenden möchten, hierzu auch eine Gelegenheit bekommen. (epd, 1.4.19)