Politiker und Verbände betonen Missbrauch als gesamtgesellschaftliches Phänomen - und warnen vor Fixierung auf Kirche

"Kein Erkenntnis-, sondern Handlungsproblem"

Im Missbrauchsskandal mehren sich die Stimmen, die vor einer Fixierung auf Fälle in der katholischen Kirche warnen. Das meiste Leid geschehe nicht außerhalb, sondern in den Familien selber, so Kinderschutzbund und Evangelische Kirche. Gleichzeitig spricht sich die Bundesjustizministerin nun für eine unabhängige Untersuchungskommission aus.

Autor/in:
Michael Borgers
 (DR)

Die Missbrauchsfälle in katholischen Einrichtungen schaden nach den Worten des Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Nikolaus Schneider, auch dem Ansehen der evangelischen Kirche. Die Öffentlichkeit unterscheide in solchen Fragen kaum zwischen den Konfessionen, sagte der amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland am Samstag (13.03.2010) in Köln. Der Missbrauch von Minderjährigen sei zudem kein katholisches Phänomen, es gebe ihn etwa auch bei Protestanten oder Konfessionslosen. Am häufigsten komme Missbrauch in Familien vor.

Als Konsequenz aus den zuletzt bekannt gewordenen Fällen von sexuellem Missbrauch fordert der Repräsentant der 25 Millionen deutschen Protestanten von den Kirchen Transparenz und umfassende Zusammenarbeit mit der Justiz. Dazu gehört für den EKD-Ratschef ein Täter-Opfer-Ausgleich. Wer sich an Minderjährigen vergangen habe, dürfe zudem nicht mehr als Pfarrer oder in ähnlicher Funktion arbeiten. Skeptisch äußerte sich Schneider über die mögliche Verlängerung oder Aufhebung von Verjährungsfristen.

Für die evangelische Kirche sieht der EKD-Ratsvorsitzende derzeit keinen Anlass, sich bei Opfern von sexuellem Missbrauch pauschal zu entschuldigen. Dies sei zunächst eine Sache zwischen Täter und Opfer, sagte Schneider.

Nahles und Dobrindt: Debatte nicht auf Kirche fixieren
SPD-Generalsekretärin Nahles sagte der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (FAS), Kindesmissbrauch sei "keineswegs auf die katholische Kirche beschränkt". Es gehe um ein "breites gesellschaftliches Phänomen". Deshalb rate sie Leutheusser-Schnarrenberger, "nicht so zu tun, als müsse nur in der katholischen Kirche nach Schuldigen gesucht werden. Sie wird sonst bald von anderen Einsichten überholt." Ähnlich äußerte sich CSU-Generalsekretär Dobrindt. Kindesmissbrauch sei ein "gesamtgesellschaftliches Phänomen", das bisher tabuisiert worden sei, sagte er der FAS. Deshalb dürfe ein Runder Tisch auch nicht auf die Kirche "verengt" werden.

Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, sagte, die Debatte laufe falsch. Sexuelle Übergriffe passierten am häufigsten nicht in Schulen, Heimen oder kirchlichen Einrichtungen, sondern in den Familien, betonte er in einem Interview der in Landau erscheinenden "Rheinpfalz am Sonntag". Es gebe kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsproblem. Auch werde zu viel über Vorfälle debattiert, die Jahrzehnte zurücklägen. Dabei passierten auch heute 80.000 bis 120.000 Missbrauchsfälle jährlich.

Forderung nach Untersuchungskomission
Bundesjustizministerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger sprach sich für eine unabhängige Untersuchungskommission aus. Der Blick nach Irland oder in die USA zeige, dass unabhängige Experten- und Untersuchungskommissionen "einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung leisten könnten". Wie sich solche Gremien zu einem von der Ministerin bisher geforderten Runden Tisch verhalten sollten, geht aus dem Text nicht hervor. Sowohl in Irland als auch in den USA standen Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche im Mittelpunkt der Aufarbeitung.

Auch Grünen-Chefin Roth forderte eine "nationale unabhängige Untersuchungskommission" und erteilte den unterschiedlichen Konzepten eines Runden Tischs eine Absage. Derweil sprach sich Roths Parteifreundin Renate Künast dafür aus, der Staat sollte die Kirche notfalls durch Kürzung seiner Zahlungen an katholische Schulen zur umfassenden öffentlichen Aufdeckung von Missbrauchsfällen zwingen. Der Staat müsse die Kirche "politisch zwingen, überall aufzuklären", sagte die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag der "Leipziger Volkszeitung". Sie erwarte von der Kirche, "dass sie sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht und am Ende ein Vorbild ist".