Pilgerseelsorger in Santiago de Compostela über seine Erlebnisse

"In der Kathedrale fließen oft Tränen"

Wer Hunderte Kilometer nach Santiago de Compostela gepilgert ist, wird bei der Ankunft nicht stehen gelassen. Für deutschsprachige Pilgerinnen und Pilger gibt es eine Seelsorge. Josef Schönauer hat hier zwei Wochen mitgearbeitet.

Ziel des Jakobswegs: Die Kathedrale von Santiago de Compostela / © Virginia Castro (KNA)
Ziel des Jakobswegs: Die Kathedrale von Santiago de Compostela / © Virginia Castro ( KNA )

KNA: Herr Schönauer, wer in Santiago ankommt, beendet das Unterwegs-Sein. Das ist bestimmt ein emotionaler Moment...

Josef Schönauer (Pilgerseelsorger aus St. Gallen): Ja, ich habe viele Menschen weinen sehen. Ich nenne deshalb den Platz vor der Kathedrale den "Platz der Tränen und Umarmungen". Auch in der Kathedrale fließen viele Tränen, ebenso beim Pilgerbüro. Draußen umarmen sie ihre Freundinnen und Freunde nochmals. Das kann sehr emotional sein. Es sind Tränen der Freude über die Ankunft, der Trauer über das Ende einer schönen Zeit, Abschiedstränen von lieb gewonnenen Leuten, Tränen über aufbrechende Emotionen.

KNA: Sie haben bei der deutschsprachigen Pilgerseelsorge mitgearbeitet. Braucht es eine eigene Seelsorge für Pilger?

Schönauer: Als ich vor 30 Jahren das erste Mal nach Santiago kam, dachte ich, es brauche einen Ort, an dem die ankommenden Pilger aufgefangen werden. Insbesondere jene, die alleine pilgern, stehen dann auf einmal etwas verloren da, wie bestellt und nicht abgeholt. Die Idee der Pilgerseelsorge ist, dass Menschen, die ein begleitendes Angebot suchen, das auch finden.

KNA: Eines dieser Angebote besteht in einer Austauschrunde. Wie gut ist sie besucht?

Schönauer: Im Mai kamen nahezu täglich zwischen zwei und zehn Personen. Sie wollten ihre Erfahrungen teilen. Viele sind Mehrfachpilger und stellen fest, dass sie das Erlebte nicht mit den Daheimgebliebenen teilen können, weil die gemeinsame Basis fehlt.

KNA: Was erzählen die Ankömmlinge in diesen Runden?

Schönauer: Es gibt Pilger, die einfach nur strahlen vor Glück. Manchen tut es gut, jemandem sagen zu können, wie anstrengend es war oder dies von anderen zu hören. Eine Frau erzählte, wie sie auf dem Platz vor der Kathedrale ankam und sich fragte: "Und jetzt?" Im Gespräch stellte sich heraus, dass das auch ihrer Lebenssituation entsprach. Sie hatte die Ausbildung abgeschlossen und stand vor der Frage, was sie jetzt mit ihrem Leben machen solle. Es gibt oft solche Parallelen zwischen Pilger- und Lebensweg.

KNA: Wiederholen sich diese Geschichten nicht immer wieder?

Schönauer: Ja, aber ich höre gerne zu. Schwierig wird es für mich lediglich, wenn sie sich darüber beklagen, dass sie nicht die einzigen auf dem Jakobsweg waren. Dahinter steckt wohl das Bedürfnis nach dem Eremitischen, nach Ruhe und Einsamkeit. Das ist sicherlich auch ein Teil des Pilgerns. Aber die Begegnungen sind ein wesentlicher Teil des Jakobswegs. Persönlich finde ich es sehr schön, dass auch andere diesen Weg gehen.

KNA: Was erfahren die Ankömmlinge beim spirituellen Rundgang?

Schönauer: Die Leute von der Pilgerseelsorge zeigen die Kathedrale von außen, erklären die Symbolik der Muschel und die Geschichte des Heiligen Jakobus. An diesen Rundgängen nehmen bis zu 50 Personen täglich teil, und sie hören sehr aufmerksam zu. Manche sagen, so viele Hintergründe zum Jakobsweg hätten sie auf dem ganzen Weg noch nicht gehört.

KNA: Pilger suchen Ihrer Ansicht nach Einfachheit, Entschleunigung und Ursprünglichkeit. Das findet man auch auf einer Bergtour durch die Alpen. Was ist der Unterschied?

Schönauer: Für viele ist der spirituelle Aspekt ebenfalls wichtig. Natürlich kann ich auch im Alpstein über mein Leben nachdenken. Aber auf dem Jakobsweg weiß ich, dass ich Leute treffe, die auch über ihr Leben nachdenken. Für viele Menschen, die auf der Suche sind, sind diese oft tiefen Gespräche hilfreich.

KNA: Können Sie ein Beispiel nennen?

Schönauer: Ein Lebensmittelingenieur erzählte mir, in seinem Beruf lerne man, andere Menschen zu betrügen. Auf dem Jakobsweg ist ihm sehr bewusst geworden, dass er das in seinem Leben nicht mehr möchte. Unterwegs hat er viele schöne Cafes angetroffen. Nun möchte er sich selbstständig machen und ein solches Cafe eröffnen. Diese Sicherheit hat er im Gespräch mit sich selbst und mit anderen gewonnen.

Das Interview führte Sylvia Stam.


Quelle:
KNA