Philosoph zur aktuellen Debatte, ob der Islam zu Deutschland gehört

"Zurück zu den sich abschottenden Nationalstaaten?"

Die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, hält das Land in Atem. Philosoph Stefan Weidner hält die Frage für hochproblematisch, die Deutschland letztlich um einhundert Jahre zurückwerfen könne.  

Besucher in einer Berliner Moschee (dpa)
Besucher in einer Berliner Moschee / ( dpa )

DOMRADIO.DE: Lassen Sie uns doch erst mal klären, was in dieser ganzen Debatte mit Islam gemeint ist? Was ist denn DER Islam?

Stefan Weidner (Islamwissenschaftler und Philosoph): Wir müssen zunächst einmal etwas Entscheidendes klären. Bei diesen ganzen Aussagen besteht eines der grundsätzlichen Probleme darin, dass man sie entweder deskriptiv oder normativ sehen kann. Wenn wir sagen "der Islam gehört zu Deutschland" stellt dies entweder eine Forderung dar: Der Islam soll zu Deutschland gehören. Oder es ist eine Tatsache: Es gibt zahlreiche Muslime und damit auch den Islam in Deutschland. Das heißt, wenn wir es deskriptiv lesen, also auf der Beschreibungsebene, dann müssen wir feststellen, dass der Islam natürlich zu Deutschland gehört und die Muslime ein integraler Teil Deutschlands sind.

Dagegen können sich nun Leute wehren, die dies auf der normativen Ebene sehen. Sie argumentieren gegen die Behauptung, dass der Islam ein integraler Teil unseres Deutschlandbildes sein soll. Diese deskriptive Tatsache -dass der Islam ein Teil Deutschlands ist, weil eben so viele Muslime hier leben und sie tatsächlich vielfach nach Deutschland reingeholt wurden- der Realität widerspricht.

Damit haben wir ein fundamental gesellschaftliches Problem. Allein auf dieser rein abstrakten Ebene kann man sagen: Es ist sinnvoll, den Islam als Teil von Deutschland auch im normativen Sinne zu betrachten. Sonst gibt es einen Gegensatz zwischen Norm und Realität: zwischen dem, was wir wollen und dem, was ist. Und das ist immer ein Problem. 

DOMRADIO.DE: Was steckt hinter dieser Diskussion – außer dem Machtkampf zwischen Merkel und Seehofer? Sind wir in unserer Identität so verunsichert, dass wir negative Abgrenzungen nötig haben? 

Weidner: Es gibt natürlich Aspekte am zeitgenössischen Islam, die extrem beunruhigend sind. Die Frage ist, wie geht man mit dieser Beunruhigung produktiv um - mit dieser Norm und Deskription zwischen Realität und Wunsch? Produktiv heißt zukunftsweisend.

Die Realpolitik, denke ich, kann nicht darin bestehen zu sagen "alle Muslime müssen raus". Das wird nicht funktionieren. Sie kann auch nicht darin bestehen, dass man sagt "alle Muslime müssen jetzt entweder Christen oder säkularisiert werden, so dass sie mit ihrer Religion nichts mehr oder nur rein privat zu tun haben".

Ich denke, das ist keine praktikable Politik. Deswegen finde ich die Aussage "der Islam gehört nicht zu Deutschland" im normativen Sinne politisch-praktisch hochproblematisch. 

DOMRADIO.DE: Erstaunlich ist, dass das Ansehen des Islam in Deutschland ganz gewaltig gekippt zu sein scheint. Denn wenn wir in die Geschichte unseres Landes blicken, dann wurde der Islam lange Zeit fast schon romantisch verklärt. Der deutsche Kaiser soll sogar kurz davor gewesen sein, zum Islam überzutreten. Stimmt das?

Weidner: Das glaube ich nicht. Aber ich glaube, dass er dieses Bild in der muslimischen Welt verbreitet hat, um die Muslime als Gegenmächte zu Frankreich und England für sich zu gewinnen. Beide Länder hatten den großen Teil der islamischen Welt kolonisiert. In dem Moment, wo die Muslime mit Deutschland sympathisiert haben, hatte Kaiser Wilhelm bzw. das Deutsche Reich ein großes Gegengewicht in der Bevölkerung der von Großbritannien und Frankreich kolonisierten Länder. 

DOMRADIO.DE: Aber irgendwann ist das gekippt? Früher fanden wir den Islam romantisch, heute finden wir ihn beängstigend. Wann und warum befanden viele Menschen, man müsse sich nun doch vom Islam abgrenzen?

Weidner: Der Islam galt lange Zeit als gegenaufklärerische und poetische Kraft. Als etwas, das als Sinnbild gegen die brutale, technisierte Moderne stand. Gegen all das, wogegen empfindsame Geister -vor allem Dichter in Deutschland- immer schon waren.

Heute hat dieses Gegenaufklärerische einen schlechten Ruf. Man will heute besonders aufgeklärt sein; man will besonders modern sein. Insofernhat sich dieses Bild vom Islam geändert, weil der Islam nun die gegenaufklärerische Kraft symbolisiert. Er ist natürlich viel mehr als das, aber das Bild ist gekippt. 

DOMRADIO.DE: Was sagen Sie zu der gemeinsamen Erklärung von 2018, die zurzeit von vielen Intellektuellen in Deutschland unterschrieben wird? Darin ist zu lesen: "Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch illegale Masseneinwanderung beschädigt wird". Sprich es wird aufs heftigste gegen Angela Merkels Einwanderungspolitik protestiert. 

Weidner: Auch da denke ich, dass das den Tatsachen der Realpolitik nicht gerecht wird. Natürlich kann man sagen, dass die Masseneinwanderung Probleme verursacht oder eine bestimmte Vorstellung von Deutschland kaputt macht. Die Frage ist: Wie stellen wir uns den Platz von Deutschland vor? Und wie stellen wir uns die Welt vor?

Wollen wir wirklich zurück zu den sich abschottenden Nationalstaaten? Dann wird es einen Dominoeffekt geben. Er wird nicht darin bestehen, Europa abzuschotten und alles andere wird gut. Die Massenabwanderung von der die Rede ist, ist natürlich auch eine Einwanderung - aus Rumänien, aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Sowjetunion. Aus vielen Ländern.

Wir werden einen Dominoeffekt auslösen, der auf eine immer weitere Abgrenzung heinausläuft. Dann sind wir wieder da, wo wir vor einhundert Jahren waren. Und ich glaube, das können auch die meisten der Unterzeichenden nicht wollen. Sie haben ihre politische Forderung nicht wirklich durchdacht. Sie leben nicht in der Welt, mit der wir konfrontiert sind - ob wir das wollen oder nicht. 

Das Gespräch führte Uta Vorbrodt. 


Stefan Weidner / © privat
Stefan Weidner / © privat
Quelle:
DR
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