Philosoph: Warum uns ein Ruhetag mehr Zeit schenkt

Wo ist die Zeit geblieben?

Das Zeitempfinden vieler Menschen der Moderne ist: Man fühlt sich gestresst, rennt hektisch durch den Alltag und die Zeit scheint dabei immer knapp zu sein. Warum ist das so? Und was hilft uns, zur Ruhe zu kommen? Philosoph Gerd Achenbach antwortet.

 (DR)

DOMRADIO.DE: Uns allen stehen 24 Stunden täglich zur Verfügung. Das könnte man eigentlich als viel Zeit oder als Geschenk ansehen. Die meisten von uns spüren aber eher den Mangel. Warum ist das so?

Gerd Achenbach (Philosoph und Gründer der ersten deutschen Philosophischen Praxis): Ich würde anfangen bei Ihrer Bemerkung, die Zeit bestimme uns. Ich glaube, in der Gegenwart ist es wirklich so, dass die Zeit uns beherrscht – in einer Weise, in der die Menschen der Moderne noch nie beherrscht wurden. Im Journalismus zum Beispiel herrscht das Aktuelle. Das gilt als ganz wichtig und besonders bedeutsam. Das Ewige dagegen nicht. In vormoderner Zeit galt hingegen das, was ewig gültig war. Heute gilt das, was heute gilt. Das heißt, die Zeit beherrscht uns, indem sie ein Geltungsvorrecht der Gegenwart vor der Vergangenheit setzt. Das war früher anders.

DOMRADIO.DE: Wie ist es jetzt?

Achenbach: Die Eigenart der Moderne ist: Wir haben uns gegen die Zeit – gegen den Strom der Zeit – gewendet. Von alters her hat man Zeit als einen Strom gesehen, der aus der Zukunft kommt, einen Moment da ist und dann in der Vergangenheit verschwindet. So hieß es zum Beispiel: Die Zeit fließt wie Wasser. 

Der moderne Mensch hat sich gewissermaßen gegen die Zeit gestellt, indem er sagt, er habe die Zukunft vor Augen. In früheren Epochen hat man das nie gedacht. Man hat immer gemeint: Was wir vor uns haben, ist die Vergangenheit. Das klingt für den modernen Menschen ganz komisch. Wir sehen unsere Eltern vor uns und können die auch sehen. Was wir nicht sehen sind zum Beispiel Kinder, die wir vielleicht einst bekommen werden. Die Zukunft sehen wir überhaupt nicht. Wir sehen auch nicht, ob wir morgen noch leben. Das heißt, wir haben die Zukunft eigentlich im Rücken.

DOMRADIO.DE: Ich erinnere mich noch daran, wie ich auf meinen 18. Geburtstag gewartet habe. Das hat für mich ewig gedauert. Meine Eltern sagten: Die Geburtstage danach kommen umso schneller. Ändert sich das Zeitempfinden mit dem Alter?

Achenbach: Zeit zu messen bedarf einer Maßeinheit. Zeit wird zum Beispiel nach Stunden oder Monaten gemessen. Unser inneres Empfinden hat keine Uhr. Wir brauchen ein Zeitmaß. Ich bin sicher, dass die Seele eine innere Zeiteinheit hat: Das ist die Lebenszeit, die man bis dahin verlebt hat. Beispiel: Ich habe einen kleinen Sohn, der vier Jahre alt ist. Seine Empfindung von Zeit ist die Zeiteinheit von vier Jahren. Das Jahr, in der er auf seinen nächsten Geburtstag wartet, ist ein Viertel seines ganzen Lebens. Meine Mutter ist 96 geworden. Sie hatte immer den Eindruck, wenn man den Weihnachtsbaum weg stellt, ist Ostern schon vor der Tür. Und wenn Ostern vorbei ist, kommt bald wieder Weihnachten. Für sie war ein Jahr ihres Lebens nur ein Sechstel, also etwas geradezu Verschwindendes. Damit erklärt sich, was viele Menschen sagen: Ich habe den Eindruck, dass die Zeit rast.

DOMRADIO.DE: Obwohl wir objektiv sagen können, dass 24 Stunden viel Zeit sind, kommt sie uns meist zu kurz vor. Auf der anderen Seite kann sie sich ziehen wie Kaugummi. Wie können wir dafür sorgen, dass wir Zeit ein bisschen anders empfinden?

Achenbach: Wir müssen uns von einem Irrtum befreien, der sehr weit verbreitet ist: Es ist die Annahme, dass Zeit so etwas wie ein Vorrat sei. Wenn Zeit ein Vorrat wäre, der uns gegeben ist, dann gilt: Wir müssen die Zeit unbedingt ausnutzen. Berühmt ist der Ausspruch des amerikanischen Politikers Benjamin Franklin: "Zeit ist Geld". Wenn wir uns von diesem Irrtum befreien, dann geht uns auf, dass Zeit entsteht, wenn wir sie uns einräumen, wir sie uns gönnen.

DOMRADIO.DE: Um Zeit zu haben, müssen wir sie uns also einfach bloß nehmen?

Achenbach: Bei jemandem, der sich nie Zeit gelassen hat mit etwas, der immer nur gehetzt hat, der immer nur im Rattenrennen war, könnte es sein, dass er eines Tages einsehen muss, dass er in seinem Leben nie Zeit gehabt hat. Warum nicht? Weil er sich nie Zeit gelassen hat. Das ist wirklich ganz geheimnisvoll, aber es ist so. Ich mache das an einem Beispiel klar: Nehmen wir an, wir beide wollten nach Gummersbach ins Bergische Land. Sie würden sich ins Auto setzen und sind in einer knappen halben Stunde da. Ich würde mir Wanderschuhe anziehen und zu Fuß nach Gummersbach laufen. Dafür brauche ich vielleicht zwei Tage, wenn ich mir Zeit lasse. Jetzt ist die Frage: Wer hat Zeit gewonnen? Ich behaupte: ich. Warum? Sie haben eigentlich keine Zeit gewonnen, denn Sie werden zwar in diesen beiden Tagen, wo ich noch unterwegs bin, irgendetwas anderes machen, aber eines werden sie nicht haben: Zeit. Ich dagegen habe in drei Tagen wirklich Zeit genossen.

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt da der Sonntag?

Achenbach: Es gibt noch eine zweite Möglichkeit, um zur Ruhe zu kommen. Sie liegt in einer noch heute vorhandenen religiösen Praxis: Die Unterbrechung der ewigen Werktage durch einen Sonntag, an dem die Arbeit ruht. Einen Tag in der Woche zu haben, an dem man nicht arbeitet, sondern dem Herrn dient. Dazu kommen Feiertage wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Himmelfahrt. Wenn das eine gewisse Regelmäßigkeit hat und man in einem solchen Rhythmus lebt, geht davon eine Beruhigung aus. Im Gegensatz zu einer unterschiedslos getakteten Zeit, die nur mit Arbeit und mit Anforderungen angefüllt ist.

DOMRADIO.DE: Ist es denn für uns heutzutage möglich, uns komplett von der Zeit zu lösen – also einen Zustand der Zeitlosigkeit zu erreichen?

Achenbach: Das weiß ich nicht. Ich kann aber sagen, dass es etliche gibt, die sagen, dass sie so etwas in Praktiken der Meditation finden. Das ist mir fremd. Aber ich weiß davon und es gibt Menschen, die sich in der Meditation aus der Hektik und aus dem Beherrschtsein durch den Sekundenzeiger herausnehmen – und so eine Oase der Unbelangbarkeit und zeitlichen Unerreichbarkeit schaffen.

Das Gespräch führte Julia Reck.


Quelle:
DR