DOMRADIO.DE: Mit welchen Gefühlen gehen Sie in diesen traurigen Jahrestag?
Jörg Meyrer (Pfarrer in Bad Neuenahr-Ahrweiler): Das ist sehr gemischt. Ich stehe am Fenster, wie ich damals vor vier Jahren am Fenster gestanden und auf die zerstörte Welt geschaut habe. Heute gucke ich auf Baustellen, aber auch auf die Gastronomie, die wieder da ist. Ich gucke auf die noch immer zerstörte Laurentiuskirche.
Auf der einen Seite kann ich mich freuen, dass vieles wieder schön geworden ist. Und auf der anderen Seite sind auch die Baustelle noch ungezählt hier im Tal.
DOMRADIO.DE: Einiges ist längst wieder in Stand gesetzt, vieles aber eben auch nicht. Wo steht das Ahrtal vier Jahre danach?
Meyrer: Es steht im Aufbau. Viele Private haben ihre Aufgaben geschafft. Das ist auch gut so. Die öffentliche Infrastruktur braucht noch lange, lange Zeit, bis sie hinterherkommt. Es sind im Moment so viele Baustellen, glaube ich, in unserer Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler, wie es sie noch nie gegeben hat. Die Kanäle müssen gemacht werden, das Straßennetz, die Bahnschienen müssen gemacht werden, Mauern müssen ersetzt werden, die ersten Brücken sind in der Arbeit. Das ist ganz, ganz viel!
DOMRADIO.DE: Welche Bilanz können Sie denn als Kirche ziehen? Auch Kirchengebäude sind ja zerstört worden.
Meyrer: Von einem Kirchengebäude werden wir uns endgültig verabschieden. Wir haben sie, St. Pius, schon profaniert. Das ist ein bitterer Weg, das muss man wirklich sagen. Kirchen zu verabschieden ist etwas ganz Grauenhaftes. Das wird vielen Gemeinden drohen. Wir brauchen viele unserer Kirchen nicht mehr, weil der Gottesdienstbesuch ja überall zurückgeht. Das ist auch im Ahrtal genauso.
Aber wenn auch große, vertraute Kirchen nicht mehr da sind, ist das auch für Menschen sehr bitter. Deshalb warten wir wirklich auf die Wiederherstellung von zwei großen unserer Kirchen, was ein großes Entlastungssignal sein wird, wenn die noch mal benutzbar sind, wenn solche großen Baustellen dann auch geschafft sind.
DOMRADIO.DE: Wiederaufbau tut gut, aber die Todesopfer von damals kehren natürlich nie zurück. Was bedeutet das bis heute für die Menschen im Ahrtal?
Meyrer: Das sind, glaube ich, immer noch Wunden, die längst nicht verarbeitet sind, weil auch keine Zeit dafür war. Die Menschen, die ihre Familienangehörigen und Freunde verloren haben, haben selber bis heute ja ganz, ganz viel anderes zu tun, im äußeren Aufbau. Und ich glaube, dass diese Wunden – wenn Menschen auf so dramatische Weise aus dem Leben gerissen wurden – eine ganz viel länger Verarbeitung brauchen als andere Tode.
DOMRADIO.DE: Inwiefern hat die Flutkatastrophe Ihre Arbeit als Seelsorger im Ahrtal verändert?
Meyrer: Ich habe in der ersten Zeit mit all den anderen Seelsorgerinnen und Seelsorgern eine Arbeit gemacht, die ich noch nie gemacht habe. Wir haben Feste organisiert, wir haben Hilfe organisiert, wir haben all den Aufbau nochmal ins Rollen gebracht. Wir waren im Fokus der Medienöffentlichkeit. Wir haben Gottesdienste in Provisorien gefeiert. Wir haben uns um die Angehörigen der Verstorbenen gekümmert... das waren ja Dinge, auf die keiner vorbereitet war.
Manches davon ist noch geblieben, auch an öffentlicher Aufmerksamkeit, am Wissen, dass wir für die Menschen da sind. Aber anderes ist auch wieder in den Alltag zurückgekehrt. Das ist sehr unterschiedlich.
Ich bin froh, dass wir das alles so erlebt haben. Es hat unser und mein Leben unglaublich verändert. Ich bin wacher geworden für die Nöte der Menschen. Und auch sehr viel tiefer verwurzelt mit den Menschen, die hier leben und mit denen ich versuche, den Alltag zu teilen.
DOMRADIO.DE: Wie begehen Sie das Gedenken an diese Ahrtal-Katastrophe?
Meyrer: Bei uns in der Stadt ist heute Abend eine zentrale Gedenkfeier, die wir wie auch in den Jahren vorher schon mit der Stadt zusammen machen, mit der evangelischen und mit der katholischen Kirchengemeinde. Der Ministerpräsident wird da sein. Und wir werden einen Gottesdienst feiern, unter dem Stichwort Vertrauen.
Wir stellen uns auch der Frage, wie ich heute noch vertrauen kann. Sowohl der Welt, der Schöpfung, die sich ja gegen uns gewandt hat. Kann ich der Natur vertrauen, wie geht das, kann ich der Politik vertrauen? Kann ich Gott vertrauen?
Zum anderen werden um 21 Uhr die Glocken im Ahrtal läuten. Zuerst fünf Minuten die Totenglocke als Erinnerung an die Toten, aber auch an all das Leid, was dadurch geschaffen ist, aber dann auch zehn Minuten alle Glocken aus Dankbarkeit für das Leben, für die Zukunft als Erinnerung, dass Gott an unserer Seite bleibt. Ich glaube, dass das auch ein gutes und frohes Zeichen ist.
Das Interview führte Hilde Regeniter.