Pfarrer kämpft sich nach Schlaganfall zurück ins Leben

"Ich wollte zurück auf die Kanzel"

Der 10. Mai ist Tag gegen den Schlaganfall. In Deutschland erleiden ihn jährlich rund 270.000 Menschen. Auch der Pfarrer Merten Teichmann kämpfte sich danach mühsam ins Leben zurück. Aufgeben kam für ihn nie in Frage.

Autor/in:
Ina Rottscheidt
In einer leeren Kirche liegt eine Bibel auf dem Ambo. / © Daniel Yagodkin (shutterstock)
In einer leeren Kirche liegt eine Bibel auf dem Ambo. / © Daniel Yagodkin ( shutterstock )

Das erste, was Merten Teichmann sah, als er die Augen aufschlug, war eine blonde Frau, die sich über ihn beugte und sich ihm als seine neue Physiotherapeutin vorstellte. Er wunderte sich, was sie von ihm wollte, denn ihm fehlte die Erinnerung an die vergangenen Wochen, in denen er im künstlichen Koma auf der Intensivstation gelegen hatte. 

Später erfährt er, dass er einen Schlaganfall hatte – mit nur 46 Jahren. "Das passiert nicht nur alten Menschen", sagt Teichmann. Das relativ junge Alter war sein Vorteil: "Da lernt das Hirn noch schneller, und der Körper kann sich besser regenerieren". Heute ist er sich sicher: Auch Stress war die Ursache für seinen Schlaganfall vor zwölf Jahren.

"Merten, wir brauchen dich noch!"

Der Vater von zwei Kindern war viele Jahre lang Gemeindepfarrer in Biebertal in der Nähe von Gießen gewesen, bis sich am 21. April 2012 von einem Moment auf den anderen sein ganzes Leben änderte: Teichmann war mit drei Freunden auf dem Pilgerweg von Marburg nach Köln unterwegs, an diesem Tag wollten sie von Siegen aus aufbrechen. Am Morgen hatte er noch beim Bäcker Proviant besorgt, als er kurz vor Aufbruch plötzlich zusammenbrach. 

Pfarrer Merten Teichmann erlitt vor zwölf Jahren einen Schlaganfall.  / © M. Hartmann (privat)
Pfarrer Merten Teichmann erlitt vor zwölf Jahren einen Schlaganfall. / © M. Hartmann ( privat )

Im Krankenwagen hört er noch die Sirenen, dann reißen seine Erinnerungen ab. Vier Wochen liegt er im künstlichen Koma in der Uniklinik Gießen, an die Zeit hat er nur vage Erinnerungen: "Ich habe mitbekommen, wie mein Chef da war und sagte: ‚Merten, geh nicht, wir brauchen dich noch!‘"

Selbst Klavierspielen geht wieder

Nach dem Aufwachen konnte er seine linke Körperhälfte nicht bewegen und nicht sprechen. "Es war völlig verrückt, ich dachte, ich würde sprechen, aber es kamen keine Worte aus meinem Mund", erinnert er sich. Fast drei Jahre dauerte es, bis er wieder selbstständig war, jede körperliche Fähigkeit musste er neu erlernen: Greifen. Laufen. Sprechen. Jacke anziehen. "Einen Lichtschalter bedienen oder eine Türklinke runter drücken, das ging am Anfang alles nicht", erzählt er. Zwischenzeitlich sei die Verzweiflung schon sehr groß gewesen.

Heute – zwölf Jahre später – fährt Merten Teichmann Auto, spielt Klavier und – darauf ist er ziemlich stolz – Tischtennis. "Das ist sehr komplex wegen der Augen-Hand-Koordination", sagt er. Sein Tischtennispartner ist Arzt. "Und der sagt bei manchen Bewegungen oft, dass das eigentlich medizinisch unmöglich ist." Manche Ärzte hatten sogar prognostiziert, dass das mit ihm nie wieder etwas werden würde. Teichmann belehrte sie eines Besseren: Aufgeben kam ihn nicht in Frage, niemals habe er daran gedacht, sagt er. 

Symbolbild Ein Klavier in einer Kirche / © Brandon J Hale (shutterstock)
Symbolbild Ein Klavier in einer Kirche / © Brandon J Hale ( shutterstock )

Keine Glaubenskrise 

Was ihm dabei half, war der Zuspruch aus seiner Gemeinde und das Wissen darum, dass man dort für ihn betete. "Aber das Entscheidende war, dass ich an mich selbst geglaubt habe. Ich wollte zurück auf die Kanzel, bildlich gesprochen", erzählt er. 

Mit seinem Gott gehadert habe er angesichts dieses Schicksals nie, es sei eher eine theologische Krise gewesen: "Ich habe den Gedanken infrage gestellt, dass Gott in menschliches Leben eingreift und es lenkt. Davon war ich nach dem Schlaganfall nicht mehr überzeugt. Zumindest lenkt er nicht so, wie wir uns das vorstellen. Aber er gibt Kraft und Trost." 

Gehadert haben die anderen: In der Reha hat ein anderer Patient ihn mal gefragt, warum das ausgerechnet ihm, dem Pfarrer, passiert sei. "Ja, warum denn nicht mir?", antwortete Teichmann.

Zurück in den Job

2019 wollte er wieder zurück in den Job und übernahm nach mehreren kleineren Einsätzen in Kirchengemeinden und als Klinikseelsorger eine volle Pfarrstelle in Pohlheim, ebenfalls nahe Gießen, doch schon bald musste er erkennen, dass ihn das überfordert: "Zwei Dörfer, zwei Gemeinden und die Corona-Zeit, das war schlichtweg zu viel", erinnert er sich. 

"Man hat als Pfarrer zwanzig Bälle in der Luft, das war zu komplex für mich, das kann ich nicht mehr!" Es war ein Gefühl des Scheiterns, gesteht Teichmann. Und auch eine Kränkung, weil man nicht mehr Geduld mit ihm gehabt hatte. Aber eigentlich will er sich lieber auf das konzentrieren, was heute wieder geht: Und das ist ziemlich viel.  

Empathische Seelsorge 

Heute lebt er mit seiner Familie in Wettenberg und arbeitet als "Pfarrer im Wartestand": Das bedeutet, er kann sich weiterhin auf seine Genesung konzentrieren und wird gleichzeitig als Springer in Gemeinden eingesetzt, wo gerade Not am Mann ist: Bei Beerdigungen, Taufen, Trauungen und als Seelsorger im Krankenhaus. Eigentlich ein ziemlich dankbarer Job, findet Teichmann, "weil alle froh sind, dass ich helfe." 

Symbolbild Pilger unterwegs / © Song_about_summer (shutterstock)
Symbolbild Pilger unterwegs / © Song_about_summer ( shutterstock )

Auch seine Arbeit als Seelsorger hat die Krankheit verändert: Wenn sich Menschen an ihn in tiefen Krisen wenden, weiß er, wovon er redet. Viele sagen zu ihm: "Sie kennen das ja, Herr Pfarrer!" "Das ist für die Menschen viel wert, weil sie sich ernst genommen fühlen", sagt er, "durch die Erkrankung bin ich näher an ihnen dran und an dem, was sie fühlen." Dass sein Schlaganfall am Ende sogar für etwas gut gewesen sein könnte, findet er aber nicht. "Denn gut war dabei nix", sagt er, "aber ich habe das Beste daraus gemacht."

Ziele erreichen

Ratschläge an andere Betroffene mag er jedoch nicht geben, dafür seien die Fälle zu unterschiedlich. Aber eins ist für ihn klar: Es war der unbedingte Wille, es zurück ins Leben zu schaffen. Das Wort "trotzdem" ist das wichtigste in seinem Leben geworden, sagt er: "Wenn ein Schritt geht, dann geht auch ein zweiter. Und ein neunter und zehnter." 

Über seinem Schreibtisch hängt eine Karte, die er in der Reha-Zeit geschenkt bekam, mit dem jiddischen Sprichwort: "A bissel und a bissel wird a volle Schissel" – in etwa: "Wer langsam geht, kommt auch zum Ziel." Und Teichmann hat ein weiteres Ziel: Er will den Pilgerweg nach Köln, der von seinem Schlaganfall unterbrochen wurde, zu Ende gehen.

Quelle:
DR