Pfarrer blickt auf Religiosität des deutschen ESC-Beitrags

"Sie sind unglaublich existenzialistisch drauf"

Für den Eurovision Song Contest 2023 schickt Deutschland die Rockband "Lord of the Lost" an diesem Samstag ins Finale. Pfarrer Thomas Wessel hatte sie für Konzerte in seiner Kirche. Ihn begeistert die Politik und Theologie der Musik.

Die Band Lord Of The Lost tritt 2023 für Deutschland in Liverpool an / © Rolf Vennenbernd (dpa)
Die Band Lord Of The Lost tritt 2023 für Deutschland in Liverpool an / © Rolf Vennenbernd ( dpa )

DOMRADIO.DE: Deutschland wird beim Eurovision Song Contest 2023 von der Dark-Rockband "Lord of the Lost" vertreten. 2015 und 2017 waren die bei Ihnen in der Kirche. Wie kam es dazu?

Pfarrer Thomas Wessel (Evangelische Christuskirche in Bochum): Es war voll. Es war gut besucht. Die Akustik war wesentlich weniger brachial. Das war sehr symphonisch, mit viel Geigen.

Das, was ich in Erinnerung habe, ist gar nicht so sehr, was auf der Bühne war, sondern dahinter, also im Backstagebereich. Man lebte quasi einen ganzen Tag zusammen. Diese beiden Tage habe ich als sehr entspannt und sehr fröhlich und sehr neugierig in Erinnerung. Die waren äußerst höflich. Die interessierten sich für die Kirche und für unsere Geschichte und für unser unser Konzept.

DOMRADIO.DE: Wenn ich mir jetzt "Lord of the Lost" anhöre, also mein Geschmack ist das nicht unbedingt. Was ist denn Ihre Meinung zum ESC-Titel?

Wessel: Es ist auch nicht meins. Das ist mir zu brachial. Aber diese ästhetische Kombination von Gothic- und Glam-Rock, die finde ich wirklich witzig. Sie ist auch eine ganz entspannte Kombi und witzigerweise doch sehr politisch. Sie gehen äußerst spielerisch und in eine brutal ernst geführten Debatte, die im Augenblick über Identität geführt wird.

Lord of the Lost aus Deutschland treten während einer Generalprobe für den Eurovision Song Contest in Liverpool, England, auf.  / © Martin Meissner/AP (dpa)
Lord of the Lost aus Deutschland treten während einer Generalprobe für den Eurovision Song Contest in Liverpool, England, auf. / © Martin Meissner/AP ( dpa )

Allein dieser verbissen geführte Genderdiskurs. Das ist auch nur eine Form von Identitätspolitik. "Lord of the Lost" legen das ganz spielerisch auseinander. Die ästhetische Botschaft von denen ist, sei wer du sein willst oder sei es zumindest für diesen einen Moment, für einen Song lang. Das ist die Idee.

Das taucht auch im Text auf. Wir sind frei, uns zu ändern. Wir sind unsere eigene Wahl, so sinngemäß. Und das ist die eigentliche Idee. Niemand hängt am Gängelband seiner Herkunft, niemand hängt am Gängelband seines Geschlechts. Alle haben wir die Wahl, uns mit dem und denen zu identifizieren, die völlig anders sind als man selbst. Zumindest für die Länge eines Popsongs.

DOMRADIO.DE: Die Band bezieht auch ganz klar Stellung gegen Rechtspopulismus. Die AfD bekam das zu spüren. Was ist da abgelaufen?

Wessel: Eine wirklich sehr schöne Geschichte. Frauke Petry, die Ex-AfD-Chefin hatte, nachdem die Band den Vorentscheid gewonnen hatte, getwittert, dass sich normale Bürger wohl kaum von diesen Herren in ihrem pinken Outfit vertreten fühlen würden. Und daraufhin twitterten "Lord of the Lost" zurück: Keine Sorge, Frauke, euch "normale Bürger" vertreten wir auch nicht. Haben wir nie. Werden wir nie.

Es ist eine perfekte Retour. Es ist souverän. Es ist witzig. Das ist schnell, das ist wach. Es steht ja frontal gegen dieses Identitätsdenken der AfD und es verbindet "Lord of the Lost" umgekehrt mit uns Christen, mit der biblischen Theologie. Wir sind definitiv diejenigen, denen gesagt wurde, kehre um, geh aus deinem Vaterhaus, verlasse deine Familie, deinen Acker, deinen Besitz. Sei also nicht das, was Frauke Petry einen "normalen Bürger" nennt, sondern denke stattdessen nicht identitär. Wir sind da eher auf Seiten von "Lord of the Lost".

DOMRADIO.DE: Jetzt soll es ja Menschen geben, die sagen, so ein Krach oder so ein Geschrei, wie jetzt in dem aktuellen Titel, die hätten in sakralen Gebäuden nichts zu suchen, vor allen Dingen, wenn man ihnen im Titel auch noch um Hölle und so weiter geht. Was antworten Sie den Menschen?

Wessel: Dann hätte die Hölle auch nichts in der Bibel zu suchen. Die liegt ja bei uns im Blickzentrum der Bühne, auf der "Lord of the Lost" gespielt haben, die sich übrigens auch mal ein ganzes Konzeptalbum lang mit Judas beschäftigt haben und mit der Freundschaft zwischen Jesus und Judas.

Aber im Laufe der Zeit, ist mir das eigentlich auch immer deutlicher geworden. Am Ende geht es mehr um das "Wie", also um die Frage: "Wie gehen wir miteinander um?" Gerade dann, wenn wir nicht dasselbe glauben und nicht dasselbe denken und nicht denselben Geschmack haben. Und da ist es an dieser Gothic- und Dark-Rockszene wirklich auffällig, wie sehr sie sich überhaupt mit Themen beschäftigen, die wir im kirchlichen Alltag doch eher wegwedeln.

Mit Themen wie mit Tod, ohne dass gleich die Erlösung kommt oder mit Leiden, ohne dass gleich Sinn entsteht. Mit dem Teufel, der dann nicht sofort verniedlicht wird oder das Böse, das nicht gleich im Guten mündet. Bei uns in der Kirche ist immer klar, wie das Spiel ausgeht und in dieser Szene ist es das nicht. Sie sind unglaublich existenzialistisch drauf. Die nehmen Fragen ernst, die wir ansonsten in unseren Gottesdiensten eher beiseite kegeln.

Das Interview führte Oliver Kelch.

Quelle:
DR