Pastoraltheologe Heinz zum Missbrauchsskandal

"Vertrauen in die Kirche steht auf dem Spiel"

Reformen beim Umgang der katholischen Kirche mit dem sexuellen Missbrauch durch Priester fordert der emeritierte Pastoraltheologe Hanspeter Heinz. Die 2002 von der Deutschen Bischofskonferenz erlassenen Richtlinien hätten zwar Verbesserungen gebracht, reichten aber nicht aus, sagte er am Mittwoch im Interview.

 (DR)

KNA: Herr Professor Heinz, welche Auswirkungen haben die jetzt bekannt gewordenen Fälle sexuellen Missbrauchs auf die katholische Kirche in Deutschland?
Heinz: Auch wenn diese Fälle oft schon Jahrzehnte zurückliegen, stellen sie die Glaubwürdigkeit der Kirche massiv in Frage. Und das Vertrauen zu verlieren, ist das Schlimmste, was einer Firma oder Institution passieren kann. Alle Amtsträger und Mitarbeiter stehen plötzlich unter Verdacht.

KNA: Warum haben Bistümer und Orden in der Vergangenheit so stark vertuscht und solche Fälle so wenig geahndet?

Heinz: Weil der Kirche ihr eigener Ruf stärker am Herzen lag als das Schicksal der Opfer. Schon seit den 80er Jahren gibt es ja Erkenntnisse, wie stark sexueller Missbrauch die Opfer belastet - oft sogar das ganze Leben lang. Und trotzdem war die Kirche sensibler für ihr eigenes Image.

KNA: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund das Vorgehen von Pater Mertes, der die Fälle am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich gemacht hat?
Heinz: Pater Mertes macht das auf ganz hervorragende Weise. Männer wie ihn hätten wir schon lange gebraucht. Wichtig bei der Bearbeitung solcher Fälle sind nämlich nicht nur Entschuldigungen und Hilfen für die Opfer. Es muss auch darum gehen, dass die katholische Kirche ihre Schuld bearbeitet, die Täter und die Verschweiger benennt und Strukturen aufdeckt, die so etwas ermöglichen.

KNA: Warum ist das so wichtig?
Heinz: Die Wahrheit ist ganz wichtig, weil unbearbeitete Schuld das Leben über Generationen belastet. Negativ fällt mir in diesem Zusammenhang der Ökumenische Kirchentag in München auf. Dort sollte es zusammen mit Vertretern aus Irland, wo zahlreiche kirchliche Missbrauchsfälle in Kinderheimen bekannt geworden sind, eine Veranstaltung zu diesem Thema geben. Die Kirchentagsleitung hat dieses Angebot abgelehnt und stattdessen Caritas und Diakonie mit der Durchführung beauftragt. Die aber sind befangen, weil sie selbst Träger vieler Kinder- und Jugendheime sind. Deshalb sind sie nicht die richtigen Veranstalter für solch ein Forum.

KNA: 2002 hat die Deutsche Bischofskonferenz Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch verabschiedet. Hat sich die Praxis seitdem verbessert?
Heinz: Es gibt deutliche Verbesserungen, aber auch noch zahlreiche Mängel. Beispielsweise haben alle Diözesen Ansprechpartner benannt, an die die Opfer sich wenden können. Gedacht war allerdings daran, dass man unabhängige Fachleute beauftragt, um die Schwellenangst der Opfer abzubauen. Fast in der Hälfte der Bistümer sind aber de facto kirchliche Amtspersonen benannt worden. Die aber sind nicht unabhängig genug, um den Opfern die Angst zu nehmen. Das reicht nicht aus.

KNA: Auffällig ist auch der Verschiebebahnhof: Man hat Täter einfach in andere Aufgaben, Gemeinden oder Bistümer geschickt, ohne die neuen Dienststellen über Vorkommnisse zu informieren. Ist das besser geworden?
Heinz: Es war unverantwortlich, solche Menschen in einem ähnlichen Arbeitsfeld einzusetzen und ihnen erneut die Gelegenheit zu geben, Kinder und Jugendliche zu missbrauchen. Und das, obwohl genau bekannt ist, dass solche sexuellen Prägungen meist nicht mehr korrigierbar sind. Man kann höchstens lernen, damit umzugehen und sie nicht mehr aktiv auszuleben. Meiner Einschätzung nach geht die Kirche inzwischen erheblich vorsichtiger mit solchen Fällen um. Ob das allerdings überall und in jedem Fall geschieht, kann ich nicht überblicken.

KNA: Pater Mertes hat erklärt, dass auch strukturelle Probleme der katholischen Kirche den sexuellen Missbrauch begünstigen, darunter eine einseitige Verurteilung der Homosexualität. Sehen Sie das auch so?
Heinz: Ich sehe das ähnlich. Der Vatikan und viele Amtsträger haben in den vergangenen Jahren die Homosexualität als Krankheit verunglimpft und sie für die Neigung zum sexuellen Kindesmissbrauch verantwortlich gemacht. Das entspricht in keiner Weise den modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen; manche aktuellen vatikanischen Dokumente verraten nicht die Spur einer Ahnung davon.

KNA: Homosexualität ist also nicht das eigentliche Problem...
Heinz: Man lenkt mit der Homophobie von den eigentlichen Problemen ab: Ursache von sexuellem Missbrauch ist eine fehlende psycho-sexuelle Reife, eine mangelhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität. Und das kann bei Homosexuellen genau so vorkommen wie bei Heterosexuellen.

KNA: Begünstigt der Zölibat solche Praktiken?
Heinz: Die zölibatäre Lebensform lockt solche Leute an, die sich nicht ausreichend mit ihrer Sexualität auseinandergesetzt haben oder die ihre sexuelle Ausrichtung verbergen wollen. Diese Menschen meinen fälschlicherweise, sie müssten sich als Zölibatäre nicht Rechenschaft über ihre Neigungen abgeben. Und sie müssen sich ja auch nach außen hin nicht rechtfertigen, warum sie nicht in einer Partnerschaft leben.

KNA: Was heißt das für die Priesterausbildung?
Heinz: Das bedeutet, dass mehr Psychologen und Therapeuten in den Seminaren präsent sein müssen, die solche Probleme erkennen. Eine spirituelle Begleitung reicht nicht. Da gibt es erheblichen Nachholbedarf.

KNA: Heißt das nicht auch, dass der Zölibat abgeschafft werden sollte?
Heinz: Der Zölibat ist durchaus eine vernünftige Lebensform, wenn man ihn aktiv bejaht und nicht nur in Kauf nimmt. Das gilt natürlich vor allem für Ordensleute. Etwas anderes ist, ob der Pflichtzölibat für Weltpriester in der heutigen Situation der Seelsorge noch angemessen ist. Ich halte ihn für eine pastorale Katastrophe, weil die Priesterzahl in allen westlichen Ländern seit Jahrzehnten stark zurückgeht und damit in den Gemeinden immer seltener Eucharistie gefeiert werden kann. Denn die Ermöglichung der Eucharistiefeier ist weit wichtiger als die kirchliche Tradition des Pflichtzölibats.

Interview: Christoph Arens