Papst Benedikt XVI. über den Prozess Jesu

"Nicht 'das Volk' der Juden"

Am 10. März erscheint der zweite Teil des auf drei Bände angelegten Werks "Jesus von Nazareth" von Papst Benedikt XVI. Er legt seine Darstellung der Gestalt Jesu in den Evangelien auch unter seinem bürgerlichen Namen Joseph Ratzinger und als Theologe vor und behandelt darin die Ereignisse vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Der Vatikan veröffentlichte am Mittwoch einige Passagen vorab, die die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) in eigener Übersetzung auszugsweise dokumentiert:

 (DR)

7. Kapitel: Der Prozess Jesu



(...) Wer eigentlich waren genau die Ankläger? Wer hat auf die

Verurteilung Jesu zum Tode bestanden? (...) Nach dem Evangelisten

Johannes sind es einfach die "Juden". Aber dieser Ausdruck besagt im

Johannes-Evangelium keinesfalls - wie der moderne Leser

interpretieren könnte - das Volk von Israel als solches, noch

weniger hat es einen "rassistischen" Charakter. Schließlich war

Johannes, was seine Nationalität betrifft, Israelit, ebenso wie

Jesus und all die Seinen. Die gesamte ursprüngliche Gemeinde bestand

aus Juden. Bei Johannes hat dieser Ausdruck eine präzise und streng

eingegrenzte Bedeutung: Er bezeichnet damit die Tempelaristokratie.

So ist im vierten Evangelium der Kreis der Ankläger, die den Tod

Jesu fordern, klar begrenzt: Es handelt sich, in der Tat, um die

Tempelaristokratie, aber auch diese nicht ohne Ausnahme, wie der

Hinweis auf Nikodemus zu verstehen gibt.



Bei Markus erscheint im Kontext der Pessach-Amnestie (Barabbas oder

Jesus) der Kreis der Ankläger erweitert: Es erscheint der "ochlos"

und votiert für die Freilassung des Barabbas. "Ochlos" bedeutet

einfach eine Menge von Menschen, die "Masse".



Nicht selten hat das Wort einen negativen Beigeschmack im Sinn von

"Pöbel". Auf jeden Fall ist damit nicht "das Volk" der Juden als

solches gemeint. (...) Was diese "Masse" betrifft, handelt es sich

um die Unterstützer des Barabbas, die für die Amnestie mobilisiert

wurden. Da er sich gegen die römische Herrschaft wandte, konnten

seine Unterstützer natürlich mit einer bestimmten Zahl von

Sympathisanten rechnen. Es waren also die Anhänger des Barabbas

anwesend, die "Masse", während die Anhänger Jesus sich aus Angst

verborgen hielten. Daher war die Stimme des Volkes, auf die das

römische Recht gründete, einseitig präsent.



Bei Matthäus (27,25) findet man eine Ausweitung des "ochlos" von

Markus, die in ihren Konsequenzen fatal ist, und die stattdessen vom

"ganzen Volk" spricht, und ihm die Forderung nach der Kreuzigung

Jesu zuschreibt. Damit äußert Matthäus sicher keine historische

Tatsache: Wie hätte das ganze Volk in einem Moment versammelt sein

können, um den Tod Jesu zu fordern? Die historische Realität

erscheint in gesicherter Weise bei Johannes und Markus. (...)



Was ist Wahrheit? Die Frage des Pragmatikers, oberflächlich mit

einer gewissen Skepsis gestellt, ist eine sehr ernste Frage, in der

effektiv das Geschick der Menschheit auf dem Spiel steht. (...)



"Für die Wahrheit Zeugnis geben" bedeutet, Gott und seinen Willen

den Interessen der Welt und ihren Mächten gegenüber hervorzuheben.

Gott ist das Maß des Seins. In diesem Sinn ist die Wahrheit der

echte "König", der allen Dingen ihr Licht und ihre Großartigkeit

gibt. Wir können auch sagen, Zeugnis für die Wahrheit zu geben

bedeutet, von Gott als der kreativen Vernunft ausgehend die

Schöpfung zu dechiffrieren und ihre Wahrheit in einer Weise

zugänglich zu machen, dass sie Maß und orientierendes Kriterium in

der Welt des Menschen sein kann - die den Großen und Mächtigen die

Macht der Wahrheit, das gemeinsame Recht, das Recht der Wahrheit

entgegensetzt.



Sagen wir es ruhig: Das Nicht-Erlöstsein der Welt besteht genau in

dieser Nicht-Dechiffierbarkeit der Schöpfung, in der

Nicht-Erkennbarkeit der Wahrheit, eine Situation, die dann

unvermeidlich zur Herrschaft des Pragmatismus führt. Und das dann

dazu beiträgt, dass die Macht der Starken zum Gott der Welt wird.



An dieser Stelle sind wir als moderne Menschen versucht zu sagen:

"Dank der Wissenschaft ist für uns die Schöpfung dechiffrierbar

geworden." (...) In der Tat, in der großartigen Mathematik der

Schöpfung, die wir heute im genetischen Code des Menschen lesen

können, verstehen wir die Sprache Gottes. Aber leider nicht die

ganze Sprache. Die funktionale Wahrheit über ihn selbst ist sichtbar

geworden. Aber die Wahrheit über ihn selbst - wer er ist, woher er

kommt, was der Zweck seiner Existenz ist, was das Gute oder das Böse

ist - die kann man leider auf diese Weise nicht lesen. Mit dem

wachsenden Bewusstsein der funktionalen Wahrheit scheint vielmehr

eine wachsende Erblindung für "die Wahrheit" selbst Hand in Hand zu

gehen - für die Frage nach dem, was unsere echte Realität und unser

echter Zweck ist. (...)



5. Kapitel: Das Letzte Abendmahl



Aber was war nun tatsächlich das Letzte Abendmahl Jesu? Und wie

gelangte man zum zweifellos alten Konzept des Pessach-Charakters?

(...) Jesus wusste um seinen bevorstehenden Tod. Er wusste, dass er

nicht mehr das Pessach essen würde. In diesem klaren Bewusstsein lud

er seine Jünger zu einem letzten Mahl von ganz besonderem Charakter

ein, zu einem Mahl, das nicht zu irgendeinem bestimmten jüdischen

Charakter gehörte, sondern das sein Abschied war, in dem er etwas

Neues gab: er schenkte sich selbst als wahres Lamm, indem er so s e

i n Pessach begründete. (...)



Eine Sache ist bedeutend in dieser gesamten Tradition: Das

Wesentliche dieses Abschiedsmahles war nicht das antike Pascha,

sondern das Neue, das Jesus in diesem Kontext realisierte. Auch wenn

dieses Zusammensein Jesu mit den Zwölfen kein Pessach-Mahl nach den

rituellen jüdischen Vorschriften war, so wurde im Rückblick der

innere Zusammenhang mit dem Tod und der Auferstehung Jesu deutlich:

Es war das Pessach Jesu. Er hat Pessach gefeiert und er hat es

gleichzeitig nicht gefeiert: die alten Riten konnten nicht

praktiziert werden; denn als ihr Moment kam, war Jesus schon tot.

Aber er hat sich selbst geschenkt, und so hat er mit ihnen wirklich

Pessach gefeiert. In diesem Sinn wurde das alte nicht geleugnet,

sondern wurde so zu seinem vollen Sinn gebracht. (...)