Pädagoge Timm: Kinder brauchen Anerkennung

Eltern sollen selbst die Schulbank drücken

Adolf Timm ist ein Lehrer für Eltern. Der ehemalige Realschulleiter will ihnen beibringen, wie sie ihre Kinder am besten unterstützen, vor allem in der Schule. Zusammen mit dem Jugendforscher Klaus Hurrelmann hat der 64-Jährige das Elterntraining "Die Gesetze des Schulerfolgs" entwickelt und ist dabei, 60 Trainer für sein Programm auszubilden. Im Interview fasst er seine Grundsätze zusammen.

 (DR)

KNA: Herr Timm, Sie bieten «Eltern-Schulen» an, damit Väter und Mütter weniger Fehler in der Erziehung machen. Ist die Lage wirklich schon so schlimm, dass auch Eltern noch die Schulbank drücken müssen?
Timm: Ein afrikanisches Sprichwort lautet: Zur Erziehung eines Kindes braucht es ein ganzes Dorf. Zu keiner Zeit und in keiner Kultur sind die Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder allein gelassen worden. Auch in Deutschland nicht - man denke nur an die Großfamilie vor einigen Jahrzehnten. Ja, statt ihre Kinder zur Nachhilfe zu schicken, sollen Väter und Mütter selbst die Schulbank drücken.

KNA: Was wollen Sie konkret erreichen?
Timm: Unsere Kinder können mehr. Jeder ist gut in irgendetwas.
Niemand soll beschämt werden. Ob alle Kinder und Jugendlichen ihre Potenziale ausschöpfen, entscheidet über die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und die Zukunft unserer Gesellschaft. Aber es ist vor allem eine Frage ihrer Würde. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen ist der Einfluss der Eltern auf den Schulerfolg ihrer Kinder größer als der von Lehrern und Unterricht zusammen. Das Elterntraining «Die Gesetze des Schulerfolgs» qualifiziert Eltern, «Lernbegleiter» ihrer Kinder zu werden. Nur kompetente Eltern haben kompetente Kinder.

KNA: Machen Untersuchungen wie Pisa oder Erziehungsbücher wie das «Lob der Disziplin» von Bernhard Bueb zu viel Druck?
Timm: Internationale Vergleiche sind notwendig, und mein Kollege Bueb hat eine wichtige Diskussion angestoßen. Dennoch: Der Druck, der auf Kindern und Jugendlichen lastet, ist enorm. Er führt dazu, dass Schulangst schon Kinder vor ihrem Einschulungstag befällt. Aber dieser Druck wird vor allem auch von Eltern ausgeübt, die sich selbst durch die öffentliche Diskussion unter Druck gesetzt fühlen oder das Vertrauen in unser Bildungswesen verloren haben. Andere Eltern definieren sich über ihre Kinder, verfallen der Förderhysterie und blockieren eine gute Weiterentwicklung ihrer Kinder. Leider ist Eltern und Schule die Gelassenheit völlig abhanden gekommen.

KNA: Was sind die größten Fehler, die Eltern Ihrer Ansicht nach machen?
Timm: Fast alle Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Fast alle wollen ihr Kind selbstständig, sozial verantwortlich und gleichzeitig auch leistungsfähig erziehen. Aber sie wissen nicht wie. Ich rate dazu, die Schule nicht zum alles beherrschenden Thema in den Familien zu machen. Kein Kind darf auf seine Schulnoten reduziert werden. Für ein gutes Lernklima in der Familie nenne ich 6 Punkte: 1. Kinder brauchen Liebe. 2. Kinder brauchen Anerkennung. 3. Kinder brauchen Förderung und Forderung. 4. Kinder brauchen Werte und Vorbilder. 5. Kinder brauchen klare Strukturen und eine «gute Autorität». 6. Kinder brauchen logische Konsequenzen. Wenn Eltern sich daran halten, könnten sie auf Verbote weitgehend und auf Strafen völlig verzichten. Sie könnten auch sonst sehr viel mehr tun, um die Lernfreude ihrer Kinder zu erhalten.

KNA: Und wie muss sich Schule organisieren, damit die Bildung gelingt?
Timm: Auf alle Fälle besser als heute. Wenn die Engländer sagen, «churches change easier than schools» - «die Kirchen ändern sich leichter als Schulen» - gilt das auch für Deutschland. Viele Schulen haben sich dennoch auf den Weg gemacht. «Chancengerechtigkeit bei hoher Leistungsanforderung» ist ihre Devise. Eine gute Schule ist die, bei der der Sohn des Generaldirektors ebenso zur Produktion des Wissens beitragen kann wie der Sohn des Facharbeiters. Ganz wichtig ist, dass Eltern und Lehrer sich als Partner für eine bessere Schule verstehen und - unter Einbeziehung der Schüler - einen Erziehungs- und Lernvertrag anstreben.

KNA: Die Probleme von vollen Klassenzimmern, renovierungsbedürftigen Gebäuden oder veralteten Lehrmitteln dürften sich dadurch allerdings nicht lösen lassen.
Timm: Eine Schule kann nur so gut sein, wie die Gesellschaft es zulässt. Wenn in diesen Tagen viele Schüler ihren Platz in der überfüllten Klasse erst erreichen, indem sie über die Bänke anderer steigen, ist das auch pädagogisch verhängnisvoll. Der Lehrer wird bei 32 und mehr Schülern kaum in der Lage sein, zu jedem einzelnen von ihnen einen den notwendigen pädagogischen Bezug herzustellen. Neuzeitliche Unterrichtsmethoden wie Individualisierung, innere Differenzierung, Projektarbeit, selbstreguliertes Lernen, offene Lerngruppen, soziales Lernen, jahrgangsübergreifendes Lernen sind die Gelingensfaktoren einer guten Schule.

KNA: Wie wollen Sie Ihr Instrument, die Elterntrainings, weiter verbreiten?
Timm: Professor Klaus Hurrelmann und ich bilden zur Zeit deutschlandweit Pädagogen, Psychologen, Sozialpädagogen und Andersqualifizierte mit Enthusiasmusfaktor als Elterntrainer für «Die Gesetze des Schulerfolgs» aus. Dieses Training hilft Eltern, Kindern und Lehrern. Denkbar ist, dass Schulen die Teilnahme an dem Elterntraining zur Eingangsvoraussetzung für den Besuch ihrer Schule machen. Wenn Eltern, Lehrer und Schüler dann ein harmonisches Dreieck bilden, erhalten Schule und Elternhaus eine andere Qualität.

KNA: Wie wollen Sie dabei bildungsferne Schichten - etwa auch Migranten - erreichen?
Timm: Bildungsungewohnte Eltern gibt es nicht nur in Familien mit Zuwanderungsgeschichte. Tatsächlich gehört es zu unseren größten Herausforderungen, alle Eltern zu erreichen. Wir können es um der Zukunft unserer Gesellschaft willen und um der Zukunft unserer Kinder willen nicht ins Belieben der Eltern stellen, ihre Kinder zu fördern oder nicht. Professor Hurrelmann plädiert daher schon lange dafür - wie in Skandinavien üblich - Transferleistungen von der Teilnahme an einem Elterntraining abhängig zu machen. Um noch mehr Eltern noch früher zu erreichen, entwickeln wir eine leicht verständliche Kita-Version der «Gesetze des Schulerfolgs», die in Kürze eingesetzt wird. Wenn wir Sponsoren dafür finden, soll sie ins Türkische, Arabische und Russische übersetzt werden.

Das Interview führte Christoph Arens (KNA)