Politische Debatten überlagern aus Sicht des französischen Pädagogen Iannis Roder zunehmend den Geschichtsunterricht. "Gaza wird als Beweis dafür herangezogen, dass die Juden böse sind. Damit ist es legitim, gegen sie zu sein", sagte Roder im Interview der "Welt am Sonntag". Manche Schüler seien naiv, wenn sie etwa sagten, "dass die Opfer von einst heute selbst Völkermord begehen. Andere behaupten dasselbe mit einem politischen Hintergedanken." Dieser "Umkehrung der Fakten" stünden Lehrerinnen und Lehrer oft machtlos gegenüber.
Religiösität wichtig für Identität
Am 7. Oktober 2023 hatte die radikalislamische Hamas den Süden Israels überfallen; seither herrscht in Nahost erneut Krieg. Das Datum markiert laut Roder einen ähnlichen Einschnitt wie der 11. September 2001, wo bei Terroranschlägen in den USA etwa 3.000 Menschen starben. Derzeit gehe es um die Frage, "ob die Juden Frankreichs das Vertrauen in die Republik verlieren".
Seinerzeit hatte der Buchautor eine Welle des Antisemitismus an Schulen beschrieben. Heute würde er sich auf einen "Religiositätsschub" konzentrieren, sagte er: "Die Wichtigkeit der Religion als intellektuelle, mentale und identitäre Struktur und die Tatsache, dass für viele junge Menschen die Religion heutzutage keine Zugehörigkeit mehr ist, sondern eine Identität." Deswegen fühlten sich etwa Mädchen durch das Kopftuchverbot an Schulen erniedrigt.
Misstrauen als Form von Terror
Die strikte Trennung von Staat und Religion in Frankreich ziele auch darauf ab, dass junge Menschen ihre eigene Identität ausbilden könnten. "Islamisten haben ein Problem damit", sagte der Lehrer. "Jemand, der aus einer muslimischen Familie kommt, muss in ihren Augen ein praktizierender Muslim bleiben. Es missfällt ihnen, dass Schule die Möglichkeit der Emanzipation bildet."
Lehrerinnen und Lehrer überlegten bei bestimmten Themen, was sie sagen könnten, mahnte Roder. "Auch das ist Terrorismus, wenn Misstrauen gesät wird."