Opferzahl an Odenwaldschule laut Gutachtern noch höher

"Vielfaches Versagen"

Die Zahl der Opfer von sexuellem Missbrauch an der Odenwaldschule in Südhessen ist offenbar noch deutlich höher als bislang bekannt. In einem ersten Bericht war noch von 132 Opfern die Rede. Die Zahl sei nicht mehr haltbar.

Odenwaldschule (dpa)
Odenwaldschule / ( dpa )

Bei Vorlage der letzten beiden Studien zur Aufarbeitung der Vorfälle bezifferten sie die Gutachter am Freitag in Wiesbaden auf eine mittlere bis möglicherweise sogar hohe dreistellige Zahl. Der Gründungsvorsitzende des Betroffenenvereins "Glasbrechen", Adrian Körfer, sprach von 500 bis 900 Schülern und Schülerinnen. In einem 2010 abgeschlossenen ersten Bericht über die Missbrauchsfälle an der ehemaligen Reformschule in den Jahren 1966 bis 1998 war noch von 132 Opfern die Rede.

Diese Zahl ist nach Aussagen der beiden Hauptgutachter Jens Brachmann von die Universität Rostock und Florian Straus vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung in München nach heutigem Erkenntnisstand nicht mehr haltbar. Brachmann sagte, eine genaue Zahl könne aber nicht mehr ermittelt werden. Die Zahl der Täter, bei denen es sich vor allem um den Leiter und weitere Lehrkräfte der Odenwaldschule in Oberhambach bei Heppenheim handelte, schätzen die Experten auf mindestens zwei Dutzend. Die weitaus meisten davon waren demnach Männer, doch sollen auch mindestens fünf Frauen Grenzüberschreitungen gegenüber ihren Schützlingen begangen haben. Die Zahl der Straftaten gegen die Schülerinnen und Schüler geht in die Tausende.

"Vielfaches Versagen"

Der hessische Sozialminister Kai Klose (Grüne), der die Ergebnisse der Studie zusammen mit den Autoren und den Betroffenen vorstellte, sprach von einem vielfachen Versagen bei dem notwendigen Schutz der Jungen und Mädchen vor sexueller Gewalt. Dabei gehe es nicht nur um die persönliche Schuld der Täter, sondern auch um nicht wahrgenommene gesellschaftliche Verantwortung und das Versagen staatlicher Stellen wie beispielsweise der Jugendämter und der Schulaufsicht. Klose, der sein Ministeramt erst Mitte Januar antrat, bat die Opfer als heute politisch Zuständiger um Verzeihung. Er betonte, auch mit den beiden letzten Gutachten zu den Missbrauchsfällen sei keineswegs der Schlusspunkt der Aufarbeitung erreicht. Diese gehe mit der Auswertung der Erkenntnisse weiter.

Wissenschaftliche Aufarbeitung könne nichts wiedergutmachen, aber Transparenz über das entstandene System herstellen, das die Übergriffe ermöglichte und begünstigte. Die Landesregierung werde alles in ihrer Macht Stehende tun, damit sich so etwa nie mehr wiederholen könne. Klose verwies auf den Landesaktionsplan zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt in Institutionen und die auf 2,2 Millionen Euro verfünffachten Mittel für inzwischen 54 Beratungsangebote in Hessen. Zudem stelle das Land der Stiftung "Brücken bauen" zur Unterstützung der Opfer bis Ende des Jahres 100.000 Euro zur Verfügung.

Aufträge an die Gutachter zunächst gekündigt

Nach der Insolvenz des Trägervereins der 2015 geschlossenen Schule waren die Aufträge an die Gutachter zunächst gekündigt worden. Mit finanzieller Hilfe des Sozialministeriums konnten sie mit Verzögerung doch noch fertiggestellt werden. Die Münchner Studie befasst sich auf Basis von Interviews mit 40 Betroffenen mit dem sozialpsychologischen Aspekt der Missbrauchsfälle.

In dem Gutachten aus Rostock geht es nach intensiver Auswertung der umfangreichen Akten der Odenwaldschule um das Tätersystem. Die Vermischung der Rolle von Pädagogen und "Familienoberhäuptern" in dem Internat habe die Verbrechen begünstigt, viele dort Tätige hätten gar keine ausreichende pädagogische Qualifikation gehabt.

Adrian Körfer von "Glasbrechen", der selbst sieben Jahre lang Schüler und Opfer war, äußerte die Hoffung, dass dies sein letzter öffentlicher Auftritt zu diesem Thema war. Viele Opfer litten noch immer unter den Taten, manche seien in der Psychiatrie gelandet. Zwei der Haupttäter lebten noch, seien aber nie juristisch belangt worden. Nach Angaben des Grünen-Landtagsabgeordneten Marcus Bocklet hängt dies wesentlich mit der Verjährung der Verbrechen zusammen.


Quelle:
epd