Özdemir zur Visite von Präsident Gül

Europa, Integration und grüne Tipps

Der türkische Staatspräsident Abdullah Gül ist in Deutschland. Geplant ist auch ein Abstecher nach Baden-Württemberg, wo er auch Cem Özdemir trifft. Der türkischstämmige Grünen-Bundesvorsitzende über die Bedeutung des Besuchs.

 (DR)

dapd: Der türkische Staatspräsident Abdullah Gül ist zu Besuch in Deutschland, auch in ihr Heimatland Baden-Württemberg ist ein Abstecher geplant. Welche Erwartungen haben Sie an den Besuch, dem Sie ja selbst beiwohnen?

Özdemir: Ich schätze Gül als einen spannenden Gesprächspartner, der in der Türkei ja in unterschiedlichen Positionen gewirkt und Politik gemacht hat, der zuhören kann und jemand ist, der für einen offenen und modernen Kurs steht. Es ist gerade in diesen Tagen, wo es leider Probleme im Verhältnis zu Israel gibt und zudem ein Abkühlen des Verhältnisses mit der Europäischen Union festgestellt werden kann, umso wichtiger, dass dieser Staatsbesuch jetzt erfolgt. Gerade wenn man nicht möchte, dass sich die Beziehungen der Türkei und Israel weiter verschlechtern, oder auch Sorgen hat, dass die türkische Außenpolitik sich in gefährliches Fahrwasser begibt, ist es umso wichtiger, dass die Türkei eng an Europa angebunden wird. Und da hat Deutschland eine besonders herausgehobene Funktion. Daher hoffe ich, dass dieser Besuch und die Gespräche etwas bewirken können.



dapd: Auch der 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens ist Anlass des Besuchs...

Özdemir: Ja, die Integration von Menschen türkischer Herkunft in Deutschland spielt ebenso eine sehr wichtige Rolle. Beide Seiten, sowohl Deutschland als auch die Türkei, müssen ein großes Interesse an dem Thema haben. Für die Türkei ist dies wichtig, denn ihr Ansehen gerade in Deutschland, einem Land mit einer hohen Zahl an Menschen türkischer Herkunft, erfolgt nun einmal häufig über die Wahrnehmung der Deutsch-Türken. Es ist doch bemerkenswert, dass die Zustimmung zu einem EU-Beitritt der Türkei in Ländern mit vergleichsweise weniger Menschen türkischer Herkunft viel höher ist als in Deutschland. Das hat damit zu tun, dass viele vermeintliche und tatsächliche Probleme im Zusammenleben einfach auf die Türkei übertragen werden.



dapd: Welche Bedeutung hat der Besuch Güls in Baden-Württemberg für Sie?

Özdemir: Baden-Württemberg ist ein Bundesland, in dem in den 1970er Jahren viele Menschen mit türkischem Hintergrund Arbeit gefunden haben, heute leben sie dort zum Teil in der vierten Generation. Auf der anderen Seite ist Baden-Württemberg auch spannend, weil hier der erste grüne Ministerpräsident das Land gemeinsam mit der Wirtschaft neu aufstellen möchte im Bereich der erneuerbaren Energien und intelligenter Mobilität. Und wir wollen Herrn Gül natürlich auch sagen, dass wir glauben, dass die Zukunft der Türkei nicht in riesigen Staudammprojekten oder gar im Einstieg in die Atomenergie liegt. Die Zukunft auch der Türkei liegt vielmehr in der erneuerbaren Energie und in der ökologischen Ausrichtung der Wirtschaft. Und da schreitet Baden-Württemberg nun besonders voran.



dapd: Spielt auch die Diskussion über die Aufhebung der Visumspflicht eine Rolle bei dem Besuch? Die baden-württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) hat unlängst Verwirrung gestiftet mit Äußerungen, dass diese zur Disposition stehen könnte.

Özdemir: Damit da keine Zweifel entstehen: Der Visumszwang für die Türkei passt nicht mehr in unsere Zeit, er gehört aufgehoben. Wer auch immer da etwas anderes sagt, sollte wissen, dass das weder der Meinung der Landesregierung Baden-Württemberg noch der Meinung der beiden Koalitionspartner entspricht. Gerade jetzt, wo ich gewisse Tendenzen in der Türkei sehe, dass die Spitzen den Glauben an den europäischen Weg verlieren, ist es umso wichtiger, dass wir die Türkei eng an Europa anbinden. Und dazu gehört es, dass die wichtigen Akteure in der Türkei ihre Antennen in Richtung Deutschland und Europa ausrichten und nicht anderswohin. Auch sollten wir endlich entspannter mit einer doppelten Staatsbürgerschaft umgehen, da ohnehin heute jede zweite Einbürgerung mit Beibehaltung des früheren Passes erfolgt. Das gilt aber gerade nicht für Türkischstämmige.



dapd: Sie haben zusammen mit dem Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster von der CDU ein Buch über deutsch-türkische Erfolgsgeschichten herausgeben. Sowohl bei den Grünen als auch bei der CDU ist dies nicht nur positiv aufgenommen worden.

Özdemir: Das Kopfschütteln gab es nicht nur auf CDU-Seite, das gab es auch bei dem ein oder anderen Grünen, da wir durch "Stuttgart 21" eine massive Polarisierung haben. Der Oberbürgermeister vertritt hier bekanntermaßen eine andere Position als ich. Man kann gesellschaftlichen Verhältnisse jedoch nicht auf "Stuttgart 21" reduzieren. Gerade beim Thema Integrationspolitik ist der Oberbürgermeister ein verlässlicher Partner, einer der kein Öl ins Feuer gießt, sondern mit seinem Stab sachorientiert arbeitet. Integrationspolitik sollte ein Thema sein, bei dem man möglichst parteiübergreifend zusammenarbeitet. Und in Stuttgart gibt es diese Chance. Der Oberbürgermeister kam sogar selbst auf die Idee, im Buch das Thema EU-Beitritt der Türkei anzusprechen (Anmerkung der Redaktion: Er befürwortet dies in dem Buch gegen seine Parteilinie). Und da kann ich nicht zurückstehen.