Öffnung des Vatikan-Geheimarchivs aus NS-Zeit - Experten erwarten keine Sensationen

Mosaik aus spannender Zeit

Der Vatikan gibt weitere Puzzleteile zur Geschichte der katholischen Kirche und des Faschismus frei. Seit Montag sind die gesamten Aktenbestände aus der Regierung von Papst Pius XI. zugänglich. Dann werden Historiker die diplomatischen Tätigkeiten des Heiligen Stuhls in einem der schwierigsten Pontifikate des 20.

 (DR)

Der Vatikan gibt weitere Puzzleteile zur Geschichte der katholischen Kirche und des Faschismus frei. Seit Montag sind die gesamten Aktenbestände aus der Regierung von Papst Pius XI. zugänglich. Dann werden Historiker die diplomatischen Tätigkeiten des Heiligen Stuhls in einem der schwierigsten Pontifikate des 20. Jahrhunderts ebenso lückenlos aufarbeiten können wie interne kirchenpolitische Entscheidungen. In die von Februar 1922 bis Februar 1939 dauernde Amtszeit fielen nicht nur die Anfangsjahre des Nationalsozialismus, sondern auch der Aufstieg des Faschismus in Italien und Spanien sowie der Beginn der Stalin-Ära.

Johannes Paul II. hatte auf rasche Öffnung gedrängt
Nach vatikanischem Reglement dürften die Archivbestände eigentlich erst 70 Jahre nach dem Tod Pius XI. freigegeben werden - also im Frühjahr 2009. Johannes Paul II. hatte jedoch auf eine rasche Öffnung gedrängt, um die Rolle der Kirche in den dunkelsten Kapiteln des 20. Jahrhunderts zu klären und um dem Verdacht entgegenzutreten, der Vatikan halte wichtige Informationen unter Verschluss. So durften Historiker bereits ab 2003 die Akten der Nuntiaturen in Berlin und München aus den Jahren 1922 bis 1939 studieren. Die Berichte, die der bis 1929 in München tätige Vatikan-Botschafter Eugenio Pacelli - und spätere Papst Pius XII. - nach Rom schickte, liegen seit kurzem als wissenschaftliche Publikation vor. Nun dürfen Forscher auch die übrigen Quellen des Pontifikats einsehen.

Doch selbst mit päpstlicher Anordnung geschieht eine Archivöffnung nicht von heute auf morgen. Die Dokumente, lose in Schachteln aufbewahrt, mussten erst sortiert, gestempelt, nummeriert und in einem Inhaltsverzeichnis erfasst werden. Allein das Material aus den 17 Amtsjahren Pius XI. umfasst nach Schätzung des Vatikanischen Geheimarchivs an die 100.000 Faszikel - teils einzelne Blätter, teils Konvolute von 100 Seiten. Sie zu ordnen, ist kein Job für studentische Hilfskräfte, sondern für Facharchivare. Seit der päpstlichen Initiative waren es immerhin vier statt zwei Spezialisten, die die Regale durchforsteten.

Wirklich Überraschendes nicht erwartet
Mit der Materie vertraute Forscher bezweifeln, dass neue Studien wirklich Überraschendes über die Rolle der Kirche im Faschismus zu Tage fördern. Der Jesuit Peter Gumpel, der als Untersuchungsrichter der Heiligsprechungskongregation nicht an die Archiv-Sperrfrist gebunden ist, erwartet aber, dass mancher Kirchenkritik der Wind aus den Segeln genommen wird. Argumente seien nun verifizierbar, so Gumpel. Manche Anschuldigung, wie sie etwa Daniel Goldhagen erhoben habe, werde sich endgültig als haltlos erweisen. Im Übrigen gebe es bei diplomatischen Vorgängen immer Parallelüberlieferungen in staatlichen Archiven, die vielfach längst zugänglich seien; auch deshalb böten die Vatikan-Quellen im Prinzip kaum Neues.

Auch der Historiker Lutz Klinkhammer rechnet nicht mit spektakulären Entdeckungen. Lohnende Forschungsziele sieht der Mitarbeiter des Deutschen Historischen Institut (DHI) in Rom eher im Geflecht der europäischen Beziehungen: Wie beurteilte der Vatikan die politischen Entwicklungen zwischen Deutschland und Italien? Wie beobachtete er die Vorgänge in Spanien, in Österreich, der Slowakei oder Jugoslawien? Wie entwickelten sich seine Kontakte zu internationalen Organisationen wie dem Völkerbund? Die spannendsten Erkenntnisse könnten in der Untersuchung des Verhältnisses der Kirche zum italienischen Faschismus liegen, vermutet Klinkhammer. Dieses sei abgesehen von den Konkordatsverhandlungen mit Mussolini noch wenig erforscht.

Bereits 12 Bände über Zeit Pius XII. erschienen
Besonders die kirchlichen Reaktionen auf die italienischen Rassegesetze von 1938 - drei Jahre nach den Nürnberger Gesetzen - könnten nach Auffassung des DHI-Forschers einen Ansatz bieten, um den Umgang des Vatikan mit dem Antisemitismus zu analysieren. Auch dieses Ereignis fällt noch in die Regierungszeit Pius XI. - aus Sicht Klinkhammers wie auch Gumpels der historisch interessantere der beiden Päpste zur Zeit des Faschismus.

Die den Weltkrieg betreffenden Akten aus der Zeit seines Nachfolgers Pius XII. (1939-1958) wurden zwar bereits in zwölf umfangreichen Bänden veröffentlicht. Bis aber der gesamte Aktenbestand für die Forschung freigegeben wird, müsste es nach der 70-Jahre-Regel noch bis 2028 dauern. Über eine mögliche Verkürzung dieser Frist ist im Geheimarchiv derzeit nichts bekannt.
(KNA, dr)