Neuverhandlung zugelassen - kein Widerspruch mehr möglich

Große Kammer befindet über Kruzifixe

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof wird neu darüber verhandeln, ob Kruzifixe in den staatlichen Schulen Italiens ihren Platz haben. Ein Fünf-Richter-Gremium des Straßburger Hofes billigte das entsprechende Ersuchen Italiens. Nicht nur dort hatte ein Urteil von Anfang November Schlagzeilen gemacht, mit dem die Kruzifixe in italienischen Klassenzimmern untersagt wurden.

Autor/in:
Christoph Lennert
 (DR)

Beobachter hatten allgemein damit gerechnet, dass die Straßburger Richter die Überweisung an die Große Kammer zulassen würden. Unabhängig vom Gehalt der Kritik: Die bloße Fülle der - auch, aber nicht nur juristischen - Kommentare zeigte an, dass es hier um einen Fall von grundsätzlicher Bedeutung geht.

Der Menschenrechtsgerichtshof hatte zunächst einer Klägerin Recht gegeben, die sich in Italien vergeblich gegen die Kreuze in den Klassenzimmern gewandt hatte. Ihr hatte der Staatsrat, das oberste italienische Verwaltungsgericht, 2006 entgegengehalten, das Kruzifix sei längst zu einem Symbol für die Werte Italiens geworden.

Der Menschenrechtsgerichtshof folgte am Dienstag dieser Sichtweise nicht. Eine sieben Richter umfassende Kammer unter Leitung der Belgierin Francoise Tulkens befand, das Kreuz sei ein eindeutig religiöses Symbol. In staatlichen Schulen habe es daher nichts zu suchen, weil sich die Schüler in ihrem Empfinden gestört fühlen könnten. Wenn in staatlichen Schulen religiöse Symbole öffentlich gezeigt würden, schränke das die Religions- und Erziehungsfreiheit ein, urteilten die Richter - einstimmig.

Grundsätzliche Anmerkungen
Schon im Urteil von Anfang November machten die Richter grundsätzliche Anmerkungen. "Die Schule soll nicht Schauplatz missionarischer Aktivitäten oder der Predigt sein", hieß es da etwa. Den Schülern als jungen, noch formbaren Menschen fehle es an kritischer Distanz zu der Botschaft, die ein Staat aussende, wenn er eine bestimmte Religion bevorzuge.

Italien kündigte prompt Widerspruch an. Fristgerecht Ende Januar ging das Dokument aus Rom in Straßburg ein. Italien hofft, das Urteil könnte von einer Großen Kammer gekippt werden. Die Begründung für den Wunsch nach einer Neuverhandlung stützte sich vor allem auf zwei Argumentationslinien. Die eine besagt, dass der Staat zwar die Pflicht hat, Neutralität gegenüber den Religionen zu wahren. Das bedeute aber nicht absolute Unparteilichkeit. Denn durch sie werde in Wahrheit Partei ergriffen für die Seite der Nicht- oder Anti-Religiösen. So hätten die Richter eine neue Interpretation der Religionsfreiheit geliefert, die schädliche Folgen für die Bürger zahlreicher Europarats-Mitgliedstaaten haben könnte.

Das zweite Argument geht davon aus, dass in Italien das Kreuz nicht nur ein religiöses Symbol ist, sondern auch identitätsstiftende Wirkung hat, ähnlich der Nationalflagge oder dem Foto des Staatspräsidenten. Es stehe für die Werte, auf denen die italienische Gesellschaft aufgebaut sei.

Würde die Argumentation der Straßburger Richter auf die Spitze getrieben, so meinen die italienischen Juristen, müssten auch Kathedralen und Kirchen abgerissen werden, denn sie könnten die jungen Bürger ebenfalls emotional verstören. Wenn die Kreuze in den italienischen Schulen abgehängt würden, wäre die Störung des religiösen und sozialen Friedens jedenfalls größer als im umgekehrten Fall, lautete das Fazit Italiens.

Ausgang ist offen
Wie die Große Kammer entscheiden wird, ist völlig offen. Möglich und wahrscheinlich ist, dass die Bandbreite der Argumente sich vergrößert. Italien muss in dem Verfahren nicht alleine bleiben - auch andere Seiten können sich etwa durch schriftliche Beobachtungen einschalten. Ob es zu einer neuen mündlichen Verhandlung kommt, ist zwar nicht sicher, aber mehr als wahrscheinlich. In jedem Fall wird es mehrere Monate dauern, bis dafür ein Termin feststeht. Gegen die Entscheidung der 17 Richter ist dann kein Widerspruch mehr möglich.

Das Verfahren wird in Deutschland aufmerksam beobachtet werden. Auch hier war das Urteil heftig kritisiert worden. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, sprach etwa vom "krassen Missverständnis", Religionsfreiheit als Freiheit von Religion zu verstehen.