Neutestamentler Gradl erklärt Jesu' revolutionäre Tischgemeinschaft

"Das Testament, das Jesus hinterlässt, ist ein Festmahl"

Jesus als "Fresser und Säufer"? Der Neutestamentler Hans-Georg Gradl erklärt, warum Feste und Tischgemeinschaft zentral für Jesu Botschaft waren und wie er damit soziale Schranken brach. Ein Gespräch über Brot, Wein und Revolution.

Kloster Ottilien Abendmahl / © Simon Koy (KNA)
Kloster Ottilien Abendmahl / © Simon Koy ( KNA )

DOMRADIO.DE: In der Bibel wird Jesus ein "Fresser und Säufer" genannt. War er ein Lebemann?

Prof. Hans-Georg Gradl (privat)
Prof. Hans-Georg Gradl / ( privat )

Prof. Hans-Georg Gradl (Professor am Lehrstuhl für die Exegese des Neuen Testaments in Trier): Wir müssen aufpassen, dass wir die Begrifflichkeiten nicht anachronistisch verwechseln, denn wir schauen ja immer mit unseren Augen und Vorstellungen auf die Welt. Wenn da aber "Fresser und Säufer" steht, müssen wir das im Kontext des Wüstenasketen Johannes des Täufer sehen. Im Vergleich zu ihm mag Jesus auf manche wie ein "Fresser und Säufer" gewirkt haben. Ein Lebemann ist für mich aber jemand, der sich oberflächlich dem Genuss hingibt und sinnliche Vergnügen aller Art sucht. Und das war Jesus sicher nicht.

DOMRADIO.DE: Ich verstehe darunter, dass man mit Freude annimmt, was das Leben einem bietet.

Gradl: Dass Jesus sich freuen konnte und die Gemeinschaft gepflegt hat, darf als sicher gelten. Dass er eine auffällig unasketische Lebensweise pflegte, trifft auch zu. Wobei nur selten die Rede davon ist, was er gegessen oder getrunken hat. Viel spannender ist auch die Frage, wie er mithilfe des Essens und Trinkens soziale Grenzen überwunden hat. 

Das zeigt sich an der Überlieferung auch. Um genau zu sein, steht dort nämlich: "Dieser Fresser und Säufer, dieser Freund der Zöllner und Sünder". Das macht deutlich, dass Jesus Essen und Trinken und das Fest genutzt hat, um randständige Menschen zusammenzuführen.

Hans-Georg Gradl

"Das Korn sprießt, es gibt Wein in Hülle und Fülle und überall nur das Beste vom Besten."

DOMRADIO.DE: In der Bibel geht es ständig um Feste, Mähler und Wein. Wieso? 

Gradl: Anhand von Festen, Feiern, Mählern und Wein lässt sich etwas ausdrücken. Im Alten Testament etwa wird das "Ende der Welt" mit Bildern eines Festmahls beschrieben. Das Korn sprießt, es gibt Wein in Hülle und Fülle und überall nur das Beste vom Besten. Warum nutzt man diese Bilder für den Himmel? Weil sie verständlich sind. Weil sie ganz alltägliche Erfahrungen aufgreifen und uns eine Vorstellung vermitteln, was die Gemeinschaft mit Gott bedeutet. Essen und Trinken, Feiern und Zusammensein sind Bilder, die uns etwas erahnen lassen von dem, was der Glaube ersehnt und erhofft. 

DOMRADIO.DE: Warum deutet Jesus gerade Wein zu seinem Blut um? 

Gradl: Beim letzten Mahl deutet Jesus den Becher mit Wein mit den Worten "Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird." (Mk 14,24) Im Hintergrund steht der Bund, der für das Volk Israel zentral war. Freundschaften oder Verträge wurden durch das gemeinsame Trinken besiegelt. Der Kelch, der beim letzten Mahl geteilt wird, besiegelt diesen neuen Bund.

Frischgebackenes Brot (shutterstock)

Wichtig scheint mir zudem: Warum nimmt Jesus Brot und teilt es? Da ist ja nicht die Rede von Früchten, von Fisch oder Fleisch oder Beeren, sondern von Brot. Brot war eben das Grundnahrungsmittel – gleichermaßen für Arme und Reiche. Das Brechen des Brotes ist also absolut verständlich. Mit diesem grundlegend lebenswichtigen Brot deutet Jesus sich und seinen Weg. Nahrhaft und lebensspendend will er sein – wie Brot.

DOMRADIO.DE: Was ist seine Botschaft?

Gradl: In erster Linie das Reich Gottes. Ihm geht es darum, Gott ins Zentrum zu rücken. Von dieser Botschaft aus leitet Jesus alles Weitere ab. 

Er bringt die Botschaft vom nahen Gottesreich zu den Menschen und zwar – auch und gerade – zu den Menschen am Rand, zu Zöllnern, Dirnen, Außenseitern. Er verkündet einen Gott, der die Menschen sucht, der ihr Leben und Wohl will. Das übersieht man leicht. Tiefster Grund für die Mitmenschlichkeit Jesu ist Gott. Jesus ist nicht einfach ein Tugendlehrer oder ein humanistischer Sozialreformer. Sein soziales Handeln, seine Güte und Mitmenschlichkeit sind Ausdruck seines Gottesglaubens. Gott begründet und ratifiziert die Werte, für die Jesus einsteht. 

DOMRADIO.DE: Jesus hat allerdings auch die Entsagung und die Askese gekannt.

Gradl: Er war Jude und hat sicherlich nach dem Rhythmus des jüdischen Jahres gelebt. Da gab es Fest- und Fastenzeiten. Als Jude kennt er den Rückzug, die Buße, das Fasten und die Entsagung, Reinheitsgebote und Essensvorschriften. Er hat sich 40 Tage in die Wüste zurückgezogen, um zu fasten, oder einsam auf einen Berg, fern von jeglicher Nahrungsmöglichkeit. 

Und dann gibt es aber auch die Zeit des Feierns: Gemeinschaft und Feste. Die Mischung und die Dosis machen den Unterschied. Würde man 365 Tage lang feiern, wären Fest und Feiern bald schal und langweilig. Feste sind eben Hoch-Zeiten, besondere Zeiten.

 DOMRADIO.DE: Warum ist das Fest das Mittel der Wahl, um mit randständigen Gruppen zusammenzukommen? 

Gradl: Feste sind Gemeinschaft, eine Möglichkeit zusammenzuführen und zu integrieren. Feste sind Geschenke und Freude. Als Teil einer Tischgemeinschaft gibt Jesus randständigen Menschen Ansehen und Würde, er durchbricht Schranken und stiftet Gemeinschaft. Nicht von ungefähr, denke ich, will Jesus auch innerhalb eines Festes, in einem gemeinsamen Mahl erinnert werden. Das Testament, das Jesus hinterlässt, ist ein Festmahl. Daraus sind das Abendmahl und die Eucharistie entstanden.

Hans-Georg Gradl

"Dieses Durchbrechen sozialer Schranken war ein enormer Attraktivitätsfaktor für das frühe Christentum." 

Im Urchristentum, in Korinth, etwa haben sich Arme und Reiche an einem Tisch zur Feier des Herrenmahls versammelt, miteinander gebetet, Psalmen gelesen und sich an Jesus erinnert. Dieses Durchbrechen sozialer Schranken war ein enormer Attraktivitätsfaktor für das frühe Christentum. 

Reich gedeckter Tisch. Bischof Bode hatte Obdachlose und Bedürftige in Kirche zum Fastenessen geladen. / © Friso Gentsch (dpa)
Reich gedeckter Tisch. Bischof Bode hatte Obdachlose und Bedürftige in Kirche zum Fastenessen geladen. / © Friso Gentsch ( dpa )

DOMRADIO.DE: Was hat die Hostie mit einem Festmahl zu tun?

Gradl: Den Mahlcharakter der Eucharistie sollten wir nicht aus dem Blick verlieren. Auch wenn die Eucharistie im eigentlichen Sinn kein Sättiungsmahl ist, so will dieser Jesus doch Brot und Nahrung sein. Ich erinnere mich an einen "Zwischenruf" vor einigen Jahren, von der Theologin und Referentin beim Bibelwerk in Stuttgart, Anneliese Hecht. Sie mahnte, den Mahlcharakter wieder neu zu gewichten. Aus dem Mahl, so sagte sie, ist "ein Steh-Imbiss, vielfach sogar ein Geh-Imbiss geworden – und das beim kostbarsten Mahl unseres Lebens!" Im Urchristentum etwa war das Herrenmahl in ein Sättigungsmahl eingebunden, in die sogenannte Agape, das sättigende Liebesmahl.

Hans-Georg Gradl

"Das gemeinsame Mahl der Christen soll nicht ausschließen, sondern zusammenführen."

DOMRADIO.DE: War das Urchristentum sozialer Kitt? 

Gradl: Wenn das Gemeindeleben in Korinth in Schieflage geriet, hat Paulus zur Feder gegriffen und ist korrigierend eingeschritten. Als Reiche, die nicht arbeiten mussten, schon früher zum gemeinsamen Mahl gekommen sind, haben deswegen Arme, Handwerker, Tagelöhner und Saisonarbeiter, die noch am Arbeiten waren, kaum noch was abbekommen. So wurden nicht alle satt und es kam zu sozialen Spannungen. Da schrieb Paulus: "Was ihr tut, ist keine Feier des Herrenmahls mehr" (1 Kor 11,20). 

Das gemeinsame Mahl der Christen soll nicht ausschließen, sondern zusammenführen: Arme und Reiche, Juden- und Heidenchristen, Frau und Mann, Sklaven und Freie.

Brot, Wein und eine Dornenkrone / © Romolo Tavani (shutterstock)
Brot, Wein und eine Dornenkrone / © Romolo Tavani ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Wenn Jesus Diebe, Gauner und Prostituierte getroffen hat, hat er auch gesellschaftliche Standards durchbrochen. War er ein Revoluzzer? 

Gradl: Manche hätten ihn sicherlich so gesehen, ich würde das Wort aber vermeiden, weil es ideologisch so aufgeladen ist. Aber er war natürlich ein Stachel im Fleisch. Wie erklärt man sich sonst sein Ende und dass er gekreuzigt wurde? Wenn er sich einfach gefügt hätte und nicht auffällig gewesen wäre, hätte man sich doch nicht die Mühe gemacht, einen Prozess gegen ihn anzustrengen. Er war ein Störfaktor. Gerade seine Aktion im Tempel dürfte ein ausschlaggebender Grund gewesen sein, einen Tötungsbeschluss zu fällen. Seine Botschaft war unbequem, seine Kritik heftig, sein Wirken herausfordernd. 

DOMRADIO.DE: Jemand wie Jesus, ein Wanderprediger, der randständigen Gruppen einen sicheren Hafen bietet und soziale Schranken durch Feste überwindet, würde heute vermutlich schnell als Freak abgestempelt werden. Ist es nicht seltsam, dass Jesus vor allem von konservativen Kräften und Politikern verehrt wird? 

Gradl: Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass dieser viel kritisierte Jesus allzu weichgespült wird. Er war Sand im Getriebe und hat blinde Flecken in der damaligen Welt benannt. Man sollte die soziale Sprengkraft seines Wirkens keinesfalls übersehen. 

Und doch ist Differenzierung angebracht. Zum einen müssen wir sein Wirken aus der damaligen Kultur heraus deuten, zum anderen war Jesus sicher nicht im buchstäblichen Sinn politisch. Er kämpft ja nicht gegen die Besatzungsmacht, die Römer, sondern gegen Dämonen, Krankheit und Ausgrenzung. Er befreite die Menschen von ihren Ängsten.

Jesus setzt beim Einzelnen an. So wächst das Reich Gottes. Und so lässt sich Jesus von keiner Ideologie vereinnahmen. Da hatte Bismarck schon recht, wenn er sagte, mit der Bergpredigt könne man keine Politik machen. Jesu Botschaft ist kein Parteiprogramm. 

DOMRADIO.DE: Dann lässt er sich doch auch nicht von der Kirche vereinnahmen, oder? 

Gradl: Jesus lässt sich von niemandem "vereinnahmen". Auch die Kirche hat sich immer wieder selbstkritisch auf diesen Jesus auszurichten, von ihm und seiner Botschaft her korrigieren und verändern zu lassen, um in je unterschiedlichen Zeiten seine Botschaft auszubuchstabieren. Das gelingt mal mehr, mal weniger und immer nur in menschlich gebrochener Weise.

Kirche ist die Gemeinschaft derer, die versuchen, an der Botschaft Jesu Maß zu nehmen, in seine Nachfolge einzutreten und Zeichen und Werkzeug seiner befreienden Botschaft zu sein. 

DOMRADIO.DE: Zu Jesu Ende gibt es ein Bibelzitat: "Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken, bis zu dem Tag, an dem ich von Neuem davon trinke im Reich Gottes." 

Gradl: Dieser Satz öffnet uns einen Blick in die letzte Stunde, in den letzten Tag Jesu hinein. Jesus merkt, dass die Zeichen auf Sturm stehen und sich alles zuspitzt. Er dürfte geahnt haben, dass der Konflikt tödlich enden kann. Mit den Worten beendet er eine für ihn typische Praxis: "Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken."

Gleichzeitig hält er aber auch im Angesicht des Konflikts an seinem Glauben fest: "bis ich von Neuem davon trinke im Reich Gottes". Von Anfang an haben sich Christen zum Herrenmahl versammelt. Sie erinnern sich an Jesus im gemeinsamen Mahl.

DOMRADIO.DE: Was können wir heute von dieser Kultur des Feierns und des gemeinsamen Mahls lernen? 

Gradl: Wir können uns etwas von diesem sozialen Charakter abschauen. Das sollte die Kirche als Glaubensgemeinschaft nicht vergessen. Kirche, Eucharistie und Kommunion sollten uns zu einem sozialen Handeln inspirieren. 

Die Ostkirche sagt, dass die Diakonie, also das soziale Leben, die Liturgie nach der Liturgie ist. Beides gehört zusammen, das Kultische und das, was nach dem Gottesdienst geschieht. Sonst ist die Liturgie unvollständig: den Leib Christi empfangen und – in der Welt – Leib Christi sein, gehört beides zusammen.

Das Interview führte Clemens Sarholz.

Messwein

Als Messwein wird der aus Trauben gewonnene Wein bezeichnet, der in der katholischen Eucharistiefeier, beim Abendmahl der Protestanten oder in der Heiligen Liturgie der Ostkirchen Verwendung findet. Ausgehend vom letzten Abendmahl Jesu werden nach katholischer und orthodoxer Lehre in der Liturgie Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi verwandelt. Die katholische Kirche stellt seit Jahrhunderten strenge Anforderungen an die Qualität dieses Weines. Im Kirchenrecht heißt es: "Der Wein muss naturrein und aus Weintrauben gewonnen sein und darf nicht verdorben sein." (Canon 924).

Eine Flasche Messwein bei der Messvorbereitung / © Martin Jehnichen (KNA)
Eine Flasche Messwein bei der Messvorbereitung / © Martin Jehnichen ( KNA )
Quelle:
DR

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