Neue Flüchtlingstragödie im Mittelmeer

Mehr als 100 Tote befürchtet

Auf der Flüchtlingsroute zwischen Libyen und Italien ist wieder ein Boot gesunken - mehr als 100 Tote werden befürchtet. Noch an Fronleichnam hatte der Kölner Erzbischof Woelki der vielen Toten im Mittelmeer gedacht.

Flüchtlingsboot (dpa)
Flüchtlingsboot / ( dpa )

Nach dem Schiffsunglück vom Mittwoch im Mittelmeer werden 100 weitere Tote befürchtet. Falls sich die Berichte der rund 550 Geretteten bestätigen sollten, würden noch 100 Menschen vermisst, teilte der Sprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Flavio Di Giacomo, am Freitag in Rom mit. Fünf Leichen waren bereits geborgen worden. Überlebende Bootsflüchtlinge hatten dem italienischen Fernsehen berichtet, auf ihrem gekenterten Kutter hätten sich 650 Menschen befunden.

Innerhalb von 24 Stunden wurden im südlichen Mittelmeer 4.000 Flüchtlinge gerettet. Insgesamt erreichten nach IOM-Schätzungen damit seit Januar 44.000 Bootsflüchtlinge Italien. In den ersten fünf Monaten des vergangenen Jahres waren es 40.000. Den Angaben zufolge fahren die Boote zunehmend nicht nur von libyschen sondern auch von ägyptischen Häfen aus Richtung Italien.

Zwei Holzboote

Zuvor hatte es Hinweise auf ein noch größeres Drama gegeben. Die Hilfsorganisation "Sea Watch" schrieb auf ihrer Facebook-Seite: "Am heutigen Tage findet womöglich die schlimmste Tragödie im Mittelmeer statt, die je erlebt wurde". "Die Rede ist von Tausenden Toten", hieß es auch in einem Tweet der Organisation. Später entfernte "Sea Watch" die Zahl aus dem Facebook-Beitrag. Es sei mit Sicherheit eine schlimme Tragödie, über die Zahl der Opfer könne man aber vorerst nichts Genaues sagen, räumte eine Sprecherin ein.

"Watch The Med" berichtete von einem von zwei Holzbooten abgesetzten Notruf. Laut der Freiwilligenorganisation sollen insgesamt 1000 Menschen an Bord der Boote gewesen sein. Eines sei später gesunken, hieß es. Die Organisation "Sea Watch", die mit einem Schlauchboot in der Region war, berichtete zudem von einem Unglück, bei dem drei Boote gesunken seien, es gebe viele Tote. "Davon wissen wir nichts, und wir wissen auch nicht, wo diese Migranten gesichtet worden sein sollen", sagte Gentile.

Gefährlichste Flüchtlingsroute der Welt

Die italienische Küstenwache erklärte, sie habe seit Donnerstagmorgen mehr als 20 Rettungseinsätze koordiniert, bei denen insgesamt etwa 4000 Menschen in Sicherheit gebracht worden seien. Bereits am Mittwoch war ein völlig überfülltes Boot vor der libyschen Küste gekentert. Die Insassen hatten zuvor zwei Schiffe entdeckt und sich alle auf eine Seite verlagert. Rettungskräfte versuchten daraufhin auch unter Einsatz von Hubschraubern, die Migranten aus dem Wasser zu holen. Für fünf von ihnen kam jede Hilfe zu spät. 562 Menschen konnten gerettet werden.

Mit dem Beginn der warmen Jahreszeit wagen wieder mehr Flüchtlinge die Überfahrt aus Nordafrika. Das Mittelmeer gilt allerdings als die gefährlichste Flüchtlingsroute der Welt: Seit Anfang des Jahres sind Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge mindestens 1350 Menschen ertrunken.

Boot als Altar 

Erst am Fronleichnam hatte der Kölner Erzbischof Kardinal Rainer Maria Woelki in seiner Fronleichnamsmesse auch das Leiden im Mittelmeer zum Thema gemacht und ein sieben Meter langes Flüchtlingsboot zum Altar umfunktioniert. Damit erinnerte er am Donnerstag an die Menschen, die unter Lebensgefahr über das Mittelmeer fliehen, und die Tausenden toten Flüchtlinge. "Wer Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt, lässt Gott ertrinken", sagte Woelki in seiner Predigt.

Innerhalb eines Jahres seien 3327 Menschen "in Booten wie diesem zugrunde gegangen", sagte Woelki mit Verweis auf Angaben des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen. Das Boot sei zum Altar geworden, also zum Symbol für Gott selbst. "Er ist mitten in diesem Boot." Er sei in allen Flüchtlingen anzutreffen, in allen Traumatisierten, Verzweifelten und Verschleppten. "Ihr Schrei nach Gerechtigkeit, ihr Schrei nach Würde und Frieden ist Gottes Schrei - hören wir ihn?" Man könne nicht Fronleichnam feiern, ohne alles zu tun, "um gegen die Ungerechtigkeit und das Elend dieser Welt" anzukämpfen.

Ums Leben gerudert 

Nach Woelkis Predigt applaudierten die Gottesdienstbesucher. Die Messe fand unter freiem Himmel vor dem Kölner Dom statt. In der Liturgie wurde für alle Menschen auf der Flucht gebetet. Nach der Messe zog die Fronleichnamsprozession durch die Innenstadt. Die Tradition dieser Prozession reicht in Köln bis ins 13. Jahrhundert zurück.

Das Erzbistum Köln hatte das Holzboot gekauft, das von der Maltesischen Armee vor einigen Jahren bei einem Rettungseinsatz beschlagnahmt wurde. 80 bis 100 Menschen hätten Woelki zufolge in diesem Boot "um ihr Leben gerudert". Sie seien von Libyen aufgebrochen, um vor Krieg und Terror zu fliehen.

Das Boot wird nicht - wie ursprünglich vom Erzbistum Köln angekündigt - im Dom aufgestellt. Denn es passe nicht durch die Eingangstür, sagte ein Sprecher des Erzbistums. Zunächst werde es bis Anfang kommender Woche vor dem Dom stehen. Danach solle es im Rahmen der "Aktion Neue Nachbarn", der Flüchtlingshilfe des Erzbistums, als Mahnmal genutzt werden, sagte der Sprecher am Freitag.

Mit dem Aufstellen des Bootes erinnerte Woelki auch an die Aktion der 23 000 Glockenschläge auf dem Roncalliplatz vor einem Jahr. 230 Kirchen erinnerten damit an die 23 000 Flüchtlinge, die seit dem Jahr 2000 im Mittelmeer ums Leben gekommen waren.


Flüchtlingsboot als Altar / © domradio
Flüchtlingsboot als Altar / © domradio

Flüchtlingsboot als Altar (DR)
Flüchtlingsboot als Altar / ( DR )
Quelle:
dpa , epd