Nachrichtenarchiv 01.01.2004 00:00

Was ich nicht vergessen darf

 (DR)

Winnies Koffer wurde gestohlen. Mitten in der Nacht, von einem Mädchen mit brandrotem Haar, verräterisch leuchtenden Haaren, wie Winnie selbst sie einmal hatte, früher, als sie noch Lillian hieß, oder Patsy. Nichts ist der alten Frau nach diesem Raub geblieben. Der Koffer hat sie seit Kindertagen begleitet, er enthielt kaum etwas, und doch alles, was sie besaß, alles, was sie mit ihrem Leben verband, über das sie längst aufgehört hat, nachzudenken. Die Überlebensstrategie dieser bettelarmen und radikal einsamen alten Frau ist bislang der feste Tagesplan gewesen: Früh zum Markt, Obstkisten besorgen als Brennholz, um in dem verlassenen Schusterladen zu heizen, in dem sie haust, etwas zu Essen auftreiben, den Leuten zuschauen, nicht nachdenken, sich nicht erinnern an das, was verloren ist. Doch wie es scheint, war diese Ausblendung nur möglich, solange es die greifbaren Erinnerungsstücke im Koffer gab. Unter dem Eindruck des Verlusts lässt sich die Erinnerung nicht länger zurückdrängen, und Winnie beginnt zu erzählen. Langsam entwirren sich vor unseren Augen die verfilzten Stränge dieses siebzigjährigen Lebens, das an Elend alle Dickens’schen Waisenschicksale in den Schatten stellt, denn für dieses stille, verstörte Mädchen mit dem roten Haar kommt nie die Stunde der Erlösung. Und doch, Rettung erfolgt hier durch die Macht der Sprache, der Poesie. Mit der Stimme ihrer Hauptfigur beschwört Trezza Azzopardi Bilder von solcher Eindrücklichkeit, dass man sie nie wieder vergisst — genauso wenig wie Winnie selbst: Eine alte Bettlerin im Heilsarmeemantel oder die Prinzessin mit dem leuchtenden Haar, als die sie selbst sich in ihren besten Stunden sieht.