Seit vielen Jahrzehnten gehört er zu den Popstars der Weltreligionen - auf Augenhöhe mit Papst Johannes Paul II., Mahatma
Gandhi oder Mutter Teresa. Der 14. Dalai Lama, exilierter Gottkönig der Tibeter, ist ein Stück verkörpertes Weltgewissen. Vor 90 Jahren, am 6. Juli 1935, wurde er mit dem bürgerlichen Namen Lhamo Thondup geboren. 1940 kletterte er als Kleinkind auf den Thron.
Seit dem 17. Jahrhundert gilt der Dalai Lama den Tibetern als Wiedergeburt des Buddhas des Mitgefühls. Während sich seither in Europa Absolutismus, Aufklärung, Revolution, Diktaturen und Parlamentarismus die Klinke in die Hand gaben, blieb er stets nicht nur geistlicher, sondern auch weltlicher Führer Tibets - bis 2011. Der 14. Dalai Lama, seit über 65 Jahren im Exil, war freilich zeitlebens ein Gottkönig ohne Land.
Im Nordosten Tibets als Sohn einer Bauernfamilie geboren, hatte er doch keine Kindheit im eigentlichen Sinn. Denn 1937 wurde Lhamo Thondup als die Reinkarnation des Dalai Lama erkannt. Mit viereinhalb Jahren wurde der kleine Junge 1940, inzwischen mit dem Mönchsnamen Tenzin Gyatso, als Dalai Lama inthronisiert und 1950, mit Erreichen der Volljährigkeit von 15 Jahren, zum Oberhaupt eines unabhängigen Tibet ausgerufen. Noch im selben Jahr marschierte die chinesische Armee ein.
Bei Nacht und Nebel
Nach einem niedergeschlagenen Volksaufstand musste der Dalai Lama 1959 bei Nacht und Nebel aus Tibets Hauptstadt Lhasa nach Indien fliehen. Die meisten Klöster und Tempel seines Landes wurden damals zerstört. Im indischen Dharamsala stand der Dalai Lama einer Exilregierung für geschätzt sechs Millionen Tibeter weltweit vor - bis er diese Aufgabe 2011 dem nichtgeistlichen Juristen Lobsang Sangay (heute 57) als Ministerpräsident abtrat. Ihm folgte 2021 Penpa Tsering (57).

Nach wie vor ist Tibet - mit Rücksicht auf die strategische und wirtschaftspolitische Bedeutung Chinas - von keinem Staat der Welt anerkannt. Durch Reisen und Medienauftritte weltweit operiert der 14. Dalai Lama als Symbolfigur eines gewaltlosen Widerstands. Erklärtes Ziel ist eine "echte Autonomie" mit kulturellen und religiösen Freiheiten für die Tibeter unter nomineller Oberhoheit der Volksrepublik China - freilich ohne jeden Erfolg.
Friedensnobelpreis und Aufschreie
Für seinen friedlichen Widerstand gegen die chinesischen Besatzer erhielt der 14. Dalai Lama 1989 den Friedensnobelpreis. Seit Jahrzehnten wirbt er auf internationalen Reisen für Frieden und Völkerverständigung - und er hat sich dabei auch abgenutzt.

Gerade in Deutschland haben sich manche Medien auf ihn eingeschossen. Er stehe für schlichte Fußabtretersprüche und kaschiere mit seinem Charme nur ein rückwärtsgewandtes Gesellschaftsmodell für Tibet, meinen Kritiker. Zuletzt sorgten zwei seiner Aktionen und Äußerungen sogar für westliche Proteste - obwohl sie offenkundig eher auf interkulturellen Missverständnissen denn auf gewollten Regelverstößen beruhten.
Wer soll eines Tages auf den 14. Dalai Lama folgen? Natürlich der 15., mag man meinen. Nach dem Tod eines Dalai Lama suchen die Mönche des Landes nach einem Kind, in dem nach ihrer Überzeugung die Seele des Buddhas fortlebt. Doch im 21. Jahrhundert ist die Sache viel komplizierter. Seit Jahrzehnten macht Peking das "Dach der Welt" durch Umsiedlung und vermeintliche Stadtsanierungen immer chinesischer - und versucht stets, den 14. Dalai Lama zu diskreditieren.
Stets höflich und gewaltfrei
Seine "reaktionäre Haltung" unterminiere die Bemühungen um eine wirtschaftliche Entwicklung Tibets, so kolportiert Chinas Führung; deshalb verliere er auch den Rückhalt bei den eigenen Leuten. Im Lauf der Jahre hat der 14. Dalai Lama, stets höflich und gewaltfrei, wiederholt Vorschläge zum verfahrenen Tibet-Status gemacht. Doch Peking will davon nichts wissen. Dort weiß man: Die Zeit arbeitet für die Besatzer; die Welt gewöhnt sich an den Status quo.

Wo der 15. Dalai Lama wiedergeboren (reinkarniert) werden wird, da hat sich der 14. inzwischen grob festgelegt - denn es handelt sich qua Lehre um eine willentliche Weitergabe. Die Möglichkeit einer gegenüber Peking demonstrativen Übergabe schon zu Lebzeiten hat er zuletzt als Option ausgeschlossen. Er werde außerhalb des besetzten Tibet wiedergeboren, kündigte der Dalai Lama an; Pekings Zugriff und Manipulation entzogen.
Insider halten eine Reinkarnation im grenznahen Indien für wahrscheinlich. Damit dürfte die Suche der Lama-Mönche noch komplizierter werden als früher schon. Und eine Verstetigung des Konflikts ist programmiert. Denn schon jetzt steht so gut wie fest, dass die chinesische Führung - mit eigenen Vorschriften und alternativen Riten - einen eigenen, staatstreuen Kandidaten als Konkurrenz-Dalai-Lama auf den Schild heben wird.
Ein "dummer" 15. Dalai Lama?
Vor Jahren hatte der geistliche Führer der Tibeter gar einen ganz neuen gedanklichen Weg eingeschlagen - und internationale Konsultationen darüber in Gang gesetzt. Ob es nicht klug wäre, fragte er, die Tradition mit einer weltweit angesehenen Inkarnation enden zu lassen, statt die Nachfolge eines "dummen" oder umstrittenen 15. Dalai Lama möglich zu machen? "Dumm" meint dabei offenkundig: eine vermeintliche Reinkarnation unter Kontrolle Pekings. Nun hieß es aber: Die Buddhisten weltweit, auch und vor allem die tibetischen, wollten an der Institution festhalten und wünschten sich eine Reinkarnation.
Über Jahrzehnte hat sich der 14. Dalai Lama Sympathie und Respekt der internationalen Gemeinschaft erarbeitet. Nicht geschafft hat er freilich, dort auch dauerhafte Unterstützung einer tibetischen Autonomie zu erhalten. Und wenn das einem erfahrenen und weithin anerkannten Friedensnobelpreisträger nicht gelungen ist: Würde es einer kleinkindlichen, von Peking verspotteten oder bekämpften 15. Reinkarnation gelingen? Denn: An der internationalen Unterwerfung vor der chinesischen Führung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten rein gar nichts geändert.