Nach dem Mordfall Estemirowa beklagen Bürgerrechtler in Russland den fehlenden politischen Willen zur Aufklärung - erneutes Attentat

Bedrohte Menschenrechte

Zwei Wochen nach der Ermordung der Journalistin Natalja Estemirowa ist in Russland erneut ein Menschenrechtsaktivist überfallen und schwer verletzt worden. Unbekannte Täter stellten Albert Ptschelinzew Medienberichten zufolge am Freitagabend vor seiner Wohnung und feuerten ihm ein Hartgummigeschoss in den Mund. Der russische Präsident Dmitri Medwedew hatte den Kampf gegen Korruption zu einer politischen Hauptaufgabe erklärt - geschehen ist bislang allerdings nur wenig, klagen Menschenrechtler.

Autor/in:
André Ballin
 (DR)

Es ist ein schöner Morgen in Grosny. Zumindest im Zentrum der tschetschenischen Hauptstadt ist von den Zerstörungen, die zwei Kriege angerichtet haben, wenig zu sehen. Zahlreiche Plakate lassen keinen Zweifel daran, wem der Wiederaufbau zu verdanken ist: dem mächtigen tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow.

An diesem Morgen ist die Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa auf dem Weg zur Staatsanwaltschaft. Plötzlich hält neben ihr ein Lada, zwei Männer zerren sie ins Auto und bringen sie an zahlreichen Straßenposten vorbei in die benachbarte Teilrepublik Inguschetien. Dort wird Estemirowas Leiche kurz darauf mit Schüssen in Kopf und Brust gefunden.

Die Gefahr ist einfach zu groß geworden
Estemirowa galt als scharfe Kritikerin Kadyrows. Der Statthalter Moskaus in Tschetschenien war nach ihrer Überzeugung nicht nur für den Wohnungs- und Straßenbau, sondern auch für Folter, Entführungen und Morde verantwortlich. Estemirowa recherchierte für die Menschenrechtsorganisation "Memorial" im Kaukasus in Fällen, in den Menschen entführt oder Häftlinge gefoltert wurden. Nach ihrer Ermordung musste "Memorial" sein Büro in Tschetschenien schließen. Die Gefahr sei einfach zu groß geworden, sagt "Memorial"-Exekutivdirektorin Tatjana Kasatkina.

Nach Ansicht des Leiters von "Memorial", Oleg Orlow, ist Kadyrow direkt verantwortlich für das Verbrechen. "Ich zweifle nicht daran, dass Ramsan Kadyrow hinter dem Mord steckt", sagt er. Kadyrow habe Estemirowa mehrfach beschimpft und bedroht. Zugleich kritisiert Orlow die "widersprüchlichen" Signale des Kremls. Einerseits habe der russische Präsident Dmitri Medwedew "Memorial" sein Beileid ausgesprochen, andererseits die Behörden angewiesen, nicht in Richtung Kadyrow zu ermitteln.

"Es fehlt der politische Wille"
"Das schreckliche Verbrechen hat die Gesetzlosigkeit im Nordkaukasus und die gefährliche Lage von Menschenrechtlern dokumentiert", erklärt auch der Russlandermittler von Amnesty International, Simon Cosgrove, dem epd. Cosgrove weist aber auch auf andere Verbrechen hin, die außerhalb des Kaukasus stattgefunden haben: Der Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja 2006 und der Doppelmord am Bürgerrechtsanwalt Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasija Baburowa Anfang des Jahres in Moskau seien immer noch nicht aufgeklärt, kritisiert Cosgrove.

Tatsächlich sind Rechtsprechung und Korruption in Russland ein großes Problem für die Menschenrechtler. "Es fehlt der politische Wille, Verbrechen aufzuklären", sagt Cosgrove. Zugleich werden nichtstaatliche Organisationen durch immer neue Gesetze in ihrer Arbeit behindert. 2006 hat der Kreml eine Neuregistrierung aller Nichtregierungsorganisationen verlangt und damit einen wahren Papierkrieg ausgelöst. Auf diese Weise wurde der Druck auf die Menschenrechtler enorm verschärft.

Jede Menge zu tun im Bereich Menschenrechte
Dabei gibt es jede Menge zu tun im Bereich Menschenrechte. Ein Viertel der am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingehenden Klagen ist gegen Russland gerichtet. Russland ist auch das Land, das mit Abstand am häufigsten in Straßburg verurteilt wird, unter anderem wegen illegaler Festnahmen, unzumutbarer Haftbedingungen und Entführungen.

Die Kompensationen hat Moskau bislang widerstrebend bezahlt, doch weder wurden die Fälle anschließend im eigenen Land verfolgt, noch hat es grundsätzliche Änderungen im System gegeben. Nun gibt es eine Änderung: Für unbestimmte Zeit wurden die Entschädigungszahlungen ausgesetzt. Die Mittel seien erschöpft, teilte ein Sprecher der russischen Vertretung am Menschenrechtsgerichtshof lakonisch mit.