Nach dem Ende des Hungerstreiks am Brandenburger Tor

"Man muss doch die Verzweiflung der Menschen sehen"

Hanns Thomä, Migrationsbeauftragter der evangelischen Landeskirche von Berlin-Brandenburg, spricht im domradio.de-Interview über die Situation der Flüchtlinge am Brandenburger Tor, die nun ihren Hungerstreik abgebrochen haben.

Flüchtlingsvertreter in Berlin (dpa)
Flüchtlingsvertreter in Berlin / ( dpa )

domradio.de: Worum geht es den Flüchtlingen gerade, die vor dem Brandenburger Tor ihren Hunger- und Durststreik abgebrochen haben?

Thomä: Es geht ihnen zunächst um ihren Flüchtlingsschutz. Sie sind zum Teil seit längerer Zeit in den Asylverfahren und haben teilweise noch keine Entscheidungen bekommen. Wie bei allen anderen Flüchtlingen ist es auch so: Sie dürfen nicht arbeiten, sie sind in der Regel in Heimen oder Lagern untergebracht. Diejenigen, mit denen wir gesprochen haben, haben uns gesagt: “Unser Leben ist ein langsames Sterben und wir wollen endlich etwas tun, wir wollen Arbeiten können, wir wollen Studieren können, wir wollen auch etwas in dieser Gesellschaft mitmachen können. Wir ertragen dieses nutzlose Leben nicht mehr, wo wir nur ein Dach über den Kopf und Essen und Trinken haben. Eh dass wir dieses Leben so weiter fortführen müssen, haben wir eben diesen Hunger- und Durststreik gemacht und sind damit an die Öffentlichkeit getreten.“

domradio.de: Was halten Sie denn von der Form, die die Flüchtlinge gewählt haben, also einen Hunger- und Durststreik. Meinen Sie nicht, wenn jeder Flüchtling mit Hungerstreik drohen würde, dann würde sich da so eine Art "Überbieterwettbewerb der Drohungen" unter den Flüchtlingen entwickeln?

Thomä: Also ich finde es sehr merkwürdig, dass eine Verzweiflungsaktion von Menschen, die hungern und dursten und sich damit selbst in Gefahr bringen, von anderen als Drohung wahrgenommen wird und auch so benannt wird. Würden Sie einen Menschen, der oben auf der Dachkante steht und vielleicht sagt: “Ich springe da jetzt runter, wenn nicht dies und das passiert!“ Würden Sie den so benennen und würden sagen: “Das ist einer, der mir droht!“? Da würde doch auch jeder vernünftige Mensch sagen, da gehört ein guter Polizeibeamter hin, der mit dem spricht; da gehört ein Seelsorger oder ein Psychologe hin, der den überhaupt erst einmal von der Dachkante wegholt. Dann muss man mit dem reden. Das bedeutet ja nicht, dass man immer alle Forderungen erfüllt. Aber man muss doch die Verzweiflung eines Menschen sehen und die als solche auch wahrnehmen. Darum haben wir uns bemüht. Und ich bin sehr froh, dass es gelungen ist, dass die Flüchtlinge ihren Hunger- und Durststreik aufgegeben haben.

domradio.de: Nun gelten die Gesetze für Flüchtlinge nicht erst seit gestern. Warum ist der Leidensdruck der Flüchtlinge immer größer beziehungsweise warum scheint es so, als würden die Flüchtlinge zunehmend unter den Gesetzen leiden, die hier in Deutschland herrschen?

Thomä: Also ob das tatsächlich mehr ist, da bin ich mir nicht sicher. Ich glaube, was vielleicht eine etwas neue Entwicklung ist, ist, dass Flüchtlinge angefangen haben - auch in den letzten Jahren schon - dieses Leben, zu dem sie teilweise gezwungen werden - nämlich eigentlich ein nutzloses Leben, das nur warten, warten, warten bedeutet - sich gegen dieses Leben und gegen den Zwang so leben zu müssen, wehren, dass sie versuchen an die Öffentlichkeit zu gehen. In der Regel tun sie das mit den wenigen Mitteln, die sie haben und unter großen Belastungen. Ich finde, dass durchaus gut, wenn Menschen demokratische Rechte wahrnehmen und für ihre eigenen Rechte eintreten. Das bedeutet nicht, dass ich jede Form gut finde. Wir haben in den Gesprächen, die wir mit den Flüchtlingen geführt haben, selbstverständlich auf die Problematik dieser Form des Hunger- und Durststreikes hingewiesen. Wir haben sie gebeten, dies aufzugeben, sich nicht selbst zu gefährden und sich nicht selbst zu schädigen. Das ist völlig richtig. Nur man muss auch verstehen, dass die Lebensbedingungen, unter denen Flüchtlinge heute bei uns leben, nicht deshalb teilweise so schlecht sind, weil wir keine besseren Möglichkeiten haben, sondern es gibt eine Reihe von Restriktionen, die darauf abzielen, das Leben von Flüchtlingen schwerzumachen, mit dem Hintergrund: Wir wollen Flüchtlinge davor abschrecken, nach Deutschland zu kommen. Dieses System kann nicht funktionieren, weil die Menschen, die hier herkommen, aus so schlechten Lebensbedingungen kommen, dass das, was wir hier als Abschreckung in einem demokratischen Rechtsstaat leisten können, nicht wirklich eine Abschreckung ist. Wir als Kirchen appellieren dafür: Eine Aufnahme sollte hier nach den Möglichkeiten gut und gastfreundlich sein und außerdem die Möglichkeit einräumen, Ausbildungen zu machen, Deutsch zu lernen, zu arbeiten; mit dazu beitragen, dass sie hier ihren eigenen Lebensunterhalt erwerben können.