Msgr. Dr. Stefan Heße, Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal, im Interview

"Das Opfer steht für uns im Mittelpunkt!"

 (DR)

Kiz: Wie gehen Sie im Erzbistum Köln vor, wenn ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch vorliegt?
Heße: In unserem Erzbistum gelten die "Leitlinien zum Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs", die 2002 von der Deutschen Bischofskonferenz beschlossen wurden mit ergänzenden Ausführungsbestimmungen für das Erzbistum Köln. Danach handeln wir. Menschen, die Opfer von sexuellem Missbrauch geworden sind, können sich als Ansprechpartner direkt an Prälat Norbert Trippen wenden. Er führt mit den Betroffenen das erste Gespräch. Hierbei ist ein hohes Maß an Sensibilität notwendig. Sie müssen bedenken, was es für ein Opfer bedeutet, über den Missbrauch zu sprechen. Handelt es sich beim mutmaßlichen Täter um einen Priester, Diakon oder Pastoral- bzw. Gemeindereferenten unseres Bistums, übergibt Prälat Trippen seine Unterlagen zur weiteren Bearbeitung an mich als Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal. Mir steht zu diesem Zweck eine Kommission von Fachleuten zur Seite. Das sind Ärzte, Psychologen, Seelsorger und Juristen, die dem Opfer individuelle therapeutische und seelsorgliche Hilfe aufzeigen und anbieten können. Das Opfer steht für uns im Mittelpunkt! Natürlich sprechen wir auch mit dem mutmaßlichen Täter.

Kiz: Zu welchem Zeitpunkt werden die staatlichen Behören eingeschaltet und von wem?
Heße: Sobald sich der Verdacht eines sexuellen Missbrauchs erhärtet, wird die Staatsanwaltschaft informiert. Wir empfehlen den Betroffenen immer, die Tat anzuzeigen, und auch dem Verdächtigten raten wir zur Selbstanzeige. Es kommt vor, dass die Opfer oder ihre Familien eine Anzeige aus sehr persönlichen Gründen ausdrücklich nicht wollen. Eine solche Bitte muss man respektieren, und das tut übrigens auch der Staat, denn es gibt hier keinen Anzeige-Automatismus. Wir unterstützen vorbehaltlos die Aufklärung durch die staatlichen Behörden, mit denen es im Erzbistum Köln eine gute Kooperation gibt. Wir gehen so transparent wie möglich vor. Als beispielsweise vor zwei Jahren Anschuldigungen gegen einen bereits verstorbenen Priester laut wurden, haben wir von uns aus öffentlich weitere mögliche Opfer gebeten, sich zu melden.

Kiz: Jetzt ist der Vorwurf zu hören, die Kirche wolle sexuellen Missbrauch in ihren Reihen in eigener Zuständigkeit und nach ihren eigenen Regeln verfolgen, sie kooperiere nicht ausreichend mit den staatlichen Behörden. Wie ist das Verhältnis von weltlicher und kirchlicher Gerichtsbarkeit?
Heße: Weltliche und kirchliche Gerichtsbarkeit betreffen verschiedene Rechtskreise, die getrennt und unabhängig voneinander sind, aber nicht miteinander konkurrieren. Für alle Bürger ist natürlich das staatliche Gesetz die erste Rechtsgrundlage. Deshalb arbeiten wir selbstverständlich mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen. Für die Kirche gilt dazu noch ein weiteres, innerkirchliches Recht. Es relativiert das staatliche Recht in keiner Weise und ist ihm auch nicht vorgeordnet. Im Verdachtsfall eines sexuellen Missbrauchs gibt es also zwei Strafverfahren, ein weltliches und ein kirchliches. Zum Kirchenrecht kann man sagen, dass es sehr viel strengere Maßstäbe anlegt als das weltliche Recht. Es ermöglicht wegen der Unabhängigkeit vom staatlichen Strafverfahren, Straftaten disziplinarisch zu verfolgen, auch wenn die Staatsanwaltschaft kein Verfahren eröffnet oder es einstellt. Und anders als im staatlichen Recht kann in begründeten Einzelfällen sogar die Verjährung ganz ausgesetzt werden, so dass eine kirchliche Strafverfolgung auch noch nach Ablauf von zehn Jahren möglich bleibt.

Kiz: Wie geht das Kirchenrecht vor, und was passiert mit schuldig gewordenen Priestern?
Heße: Bei erhärtetem Verdacht wird eine Untersuchung eingeleitet und ein eigenes innerkirchliches Rechtsverfahren eröffnet. Ist ein Seelsorger verdächtigt, muss geprüft werden, ob er überhaupt noch einmal eingesetzt werden kann oder nicht. Diese Entscheidung kann in keinem Fall großzügiger ausfallen als das Urteil eines staatlichen Gerichts, sehr wohl kann aber eine deutlich strengere Entscheidung getroffen werden. In jedem Fall wird geprüft, welche Maßnahmen wie etwa eine Therapie zusätzlich erforderlich sind. Hierzu werden unabhängige psychologische Fachgutachter eingeschaltet.

Bei einer Verurteilung können Kirchenstrafen verhängt werden wie die Suspendierung vom Amt oder im besonders schweren Fall die Entlassung aus dem Klerikerstand. Sexueller Missbrauch durch Geistliche ist nach Kirchenrecht eine besonders schwere Straftat. Der Priester handelt ja "in persona Christi", er handelt an Christi Statt. Das ist seine besondere Berufung, auf die er sich jahrelang vorbereitet. Zugleich ist es auch seine besondere Verantwortung und Vertrauensstellung. Gerade wenn Priester Menschen, die ihnen anvertraut sind, erst recht Minderjährige sexuell missbrauchen, steht das in besonders krassem Widerspruch zu ihrem Amt. Wir erleben das ja gerade. Die berechtigte Empörung ist das Negativbild der positiven Erwartungen, die die Menschen an einen Priester zu Recht stellen.

Wenn wir also solche durch nichts zu entschuldigenden Verfehlungen nicht lückenlos aufklären, würden wir zulassen, dass unsere Glaubwürdigkeit untergraben wird.

Kiz: Was kann die Kirche tun, um Missbrauch zu verhindern?
Heße: Zunächst einmal gilt: Ehrlichkeit, Wachsamkeit und der Schutz der uns anvertrauten Menschen haben allererste Priorität. In den letzten dreißig Jahren haben sich auch die medizinischen und psychologischen Kenntnisse über krankhaft gestörte sexuelle Neigungen deutlich verbessert. Nicht nur in der Priesterausbildung, sondern auch in der Aus- und Weiterbildung unserer kirchlichen Mitarbeiter sind Fragen der Persönlichkeitsbildung und der menschlichen Integration der Sexualität seit langem selbstverständlicher und auch regelmäßiger Bestandteil. Den Zölibat abzuschaffen, wie manche jetzt fordern, löst das Problem nicht! Zwischen Pädophilie und Zölibat gibt es nach dem Urteil führender Experten keinen Zusammenhang. Und es geht auch völlig am eigentlichen Sinn des Zölibats vorbei, wenn man ihn allein unter sexuellem Aspekt betrachtet. Wir brauchen einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema. Im Priesterseminar braucht es nicht nur eine profunde Ausbildung, sondern auch eine genaue Prüfung der Kandidaten. Aber auch in unseren Schulen und Kindergärten spielt die Erziehung zu einer starken Persönlichkeit eine zentrale Rolle. Denn auch das gehört zur Prävention: Kinder, die Nein sagen können, sind stärker. Wir tun alles, um solche Vergehen nach Möglichkeit zu verhindern.

Kiz: Gibt es nach den Ereignissen der letzten Wochen konkrete Überlegungen?
Heße: Wir hatten schon zum Jahreswechsel mit Kardinal Meisner im Geistlichen Rat festgelegt, dass alle Priester, Diakone, Pastoral- und Gemeindereferenten an Informationsveranstaltungen zu diesem Thema teilnehmen. Hierbei geht es um die Fragen: Was ist Missbrauch? Wie gehen Täter vor? Wie verhalte ich mich, wenn Kinder von Missbrauch erzählen? Wie verhalte ich mich als Seelsorger in der Kinder- und Jugendarbeit? - um nur einiges zu nennen. Referentin ist eine erfahrene Ärztin. Leider haben die Ereignisse unsere Planungen jetzt eingeholt und gezeigt, wie wichtig sie sind, damit auch in Zukunft gute Kinder- und Jugendarbeit in unseren Gemeinden getan werden kann und ein natürlicher Umgang mit Kindern und Jugendlichen möglich bleibt. Darüber hinaus wird die Bischofskonferenz die Leitlinien von 2002 einer genauen Prüfung unterziehen, um zu sehen, was verbessert werden kann. Wir hier in Köln werden in Kürze auch eine fachlich versierte Frau als Erstansprechpartnerin vorstellen, damit Missbrauchsopfer die Wahl haben, ob sie lieber mit einer Frau oder einem Mann das erste Gespräch suchen.

Interview: Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln