Monsignore Schumacher über seine Predigt zum Missbrauchsskandal

Das Leid nicht ignorieren

Mit der Weihnachtspost erhielt Stadtdechant Monsignore Wilfried Schumacher aus Bonn völlig überraschend eine Urkunde. Seine Predigt ist unter den zehn besten im Jahr 2010. Dabei war ihm angesichts der Missbrauchsberichte eher zum Schweigen zu Mute statt zum Predigen, erzählt er im domradio.de-Interview.

 (DR)

Für seine Predigt im März hat er die sogenannte "Silberne Taube" verliehen bekommen. Domradio.de dokumentiert die Predigt im Wortlaut.



Predigt am 3. Fastensonntag zum Thema Missbrauch von Msgr. Wilfried Schumacher (07.03.2010 im Bonner Münster)



Mit ihnen und bei ihnen aushalten!



Eigentlich wollte ich heute die Predigt durch Schweigen ersetzen. Die täglich neuen Schlagzeilen vom Missbrauch, von sexueller und physischer Gewalt an wehrlosen Kindern und Jugendlichen macht mich sprachlos. Aber ich möchte mich auch nicht wortlos davonstehlen. Deshalb lade ich Sie ein, dass wir am Beginn dieser Predigt einmal eine Minute schweigen, in Ehrfurcht vor den Opfern, in tiefer Scham, was Menschen im Schutz des geistlichen Amtes angerichtet haben, im Eingeständnis der Schuld, die die Kirche, zu der wir alle gehören, auf sich geladen hat.



Als wir in vielen Gesprächen und Überlegungen unser Fastentuch entwarfen, waren uns die Leerstellen ganz wichtig. Uns war bewusst, wir können unzählige Fotos sammeln und veröffentlichen, immer wird es Leid geben, das wir nicht dargestellt haben.



Wir ahnten nicht, dass sich so schnell eine Leerstelle füllen würde - mit dem Bild der Kinder und Jugendlichen, denen sexuelle und physische Gewalt angetan wurde. Jeden Morgen gibt es neue Schlagzeilen. Seit gestern auch aus dem außerkirchlichen Bereich. Aber das kann nicht über dieses furchtbare Geschehen in kirchlichen Einrichtungen hinwegtäuschen. Was wir da seit Wochen hören, übersteigt das für mich Vorstellbare. Es ekelt mich an. Es beschämt und macht fassungslos.



Dahinter steckt unfassbares Leid in den Seelen von Kindern, von jungen Menschen.



Sie können nicht reden, über das, was mit ihnen geschehen ist. Still schreien sie. Es sind unaussprechliche Taten, die sie tief beschämen. Immer wieder aufkommende Erinnerungen, zu schrecklich, um sie einem anderen zu offenbaren. Die Bilder weichen nicht von der Seele. Dies alles verbunden mit Menschen, die ihnen aus unterschiedlichen Gründen nicht gleichgültig waren.



Es verwundert nicht, wenn sie Jahrzehnte brauchen, bis sie überhaupt darüber reden können. Jetzt müssen wir ihnen zuhören, auch wenn jede einzelne Geschichte schmerzt. Jetzt verdienen sie unsere ganze Aufmerksamkeit, auch wenn jeder Fall uns neu erschüttert. Jetzt müssen wir uns ihrem Zorn stellen, weil sie jetzt mitbekommen, dass sie allein gelassen wurden, weil andere weggeschaut und vertuscht und die Täter nur versetzt haben.



Diese Wunden aus der Kindheit werden vielleicht nie ganz heilen; aber Menschen, die jetzt sprechen, erfahren, dass das heilsam ist. Deshalb müssen wir ihnen zuhören.



Wenn ich das Fastentuch anschaue, dann sehe ich durch das Antlitz des leidenden Christus hindurch in die Gesichter der leidenden Kinder und Jugendlichen, die von Erwachsenen missbraucht werden.



Und ich frage den Herrn, der mich vom Fastentuch herab anschaut: Was soll das jetzt? Warum diese auch manchmal unerträgliche öffentliche Diskussion, die viele Ressentiments bestätigt und manche nach schnellen Lösungen rufen lässt?



Ich versuche eine Antwort:



1. Die Wucht der öffentlichen Diskussion lässt Kirche endlich handeln. Unsere ganze Aufmerksamkeit gilt den Opfern und genauso engagiert müssen wir verhindern, dass Menschen mit pädophiler Neigung in der Kirche ein Platz finden, wo sie dieser Neigung nachgehen können.



2. Wir müssen in der Kirche ein Klima schaffen, in dem offener mit dem Thema "Sexualität" umgegangen wird.



Sexualität ist eine mächtige Kraft in unserem Inneren, aber sie ist nicht das Größte und Wichtigste im Leben. Die Geschlechtlichkeit erschöpft sich nicht im Ausleben des Geschlechtstriebs. Sie hilft uns, Mann zu sein und Frau zu sein, in Beziehung zu einander zu treten. Wir wissen um ihre Dynamik und auch darum, dass wir sie wie ein wildes Tier auch domestizieren müssen, damit sie gezähmt unserer Liebe dient.

Die Sexualität steht immer auch in Beziehung zur Gewalt, zur Macht über andere. Kein Bereich eignet sich so gut, um Macht über Menschen auszuüben.

Kirche hat gerade in der Neuzeit in diesem Bereich psychische Macht über die Menschen ausgeübt. Ich bin oft tief erschüttert, wenn ich im Beichtstuhl höre, wie Menschen oft Jahrzehnte unter dieser Gewalt gelitten haben und immer noch leiden. Da schaue ich manchmal auf den Gekreuzigten im Beichtzimmer und frage ihn: "Herr, warum? Warum wurden diese Menschen so gequält ohne dass jemand Hand an sie gelegt hat?"

Offen mit diesem Thema umgehen, heißt nicht, alles gutheißen, sondern auch hier: nicht wegschauen, sondern ehrlich wahrnehmen und darüber reden, heißt, Menschen nicht unterdrücken, sondern befreien zu einem Umgang in Liebe und Verantwortung.



3. Das Thema "Kindesmissbrauch" beherrscht immer mal wieder die Schlagzeilen; aber jetzt ist der moralische Anspruch, mit dem wir auftreten, auch der Maßstab, der das Thema in den Schlagzeilen sein lässt. Vielleicht wird unsere Gesellschaft auch dadurch sensibilisiert für das Thema. Wir dürfen nicht weiter wegschauen, weder innerhalb der Kirche, noch außerhalb, weder in Deutschland noch anderswo auf dieser Welt.



Jetzt aber gilt es für uns zuerst, auszuhalten. Alle, die sich zur Kirche bekennen, Priester wie Laien stehen in der öffentlichen Kritik. Keiner kann sich raushalten- das haben Sie gewiss auch erlebt in den letzten Tagen.



Klar, ist das doch nicht die ganze Kirche. Und man ist versucht, mit allen möglichen Argumenten, sich abzulenken.



Aber jetzt stehen wir zuerst einmal unter dem Kreuz. Wir dürfen das Leid des Gekreuzigten nicht ignorieren und sein Leid nicht unseren Interessen unterordnen. Weggeschaut haben auch damals viele. "Alle seine Bekannten aber standen fern vom Kreuz", schreibt Lukas (Lk 23,49).



Wir sehen durch den Gekreuzigten hindurch auf die vielen Menschen, denen Gewalt angetan wurde. Mit ihnen und bei ihnen auszuhalten, das ist Mit-Leiden in dieser Fastenzeit.