Letzte Wegbegleitung im Hospiz

Mit den Sterbenden leben

Nichts bewegt so sehr wie die Begegnung mit dem Tod. Denn Abschied nehmen vom Leben ist ein schmerzlicher Prozess. Menschen in dieser Ausnahmesituation die "Schwellenangst" zu nehmen, ist das Anliegen der Pallottinerin Reginata Nühlen.

Schwester Reginata Nühlen arbeitete über 40 Jahre lang als Krankenhausseelsorgerin. / © Beatrice Tomsetti (DR)
Schwester Reginata Nühlen arbeitete über 40 Jahre lang als Krankenhausseelsorgerin. / © Beatrice Tomsetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Schwester Reginata, der Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff hat einem seiner Bücher den Titel "Der Himmel ist kein Ort" gegeben. Inhaltlich ergänzt er dann an anderer Stelle "…it’s a feeling". Als Sterbebegleiterin in einem Hospiz sind Sie nah dran an diesem Thema. Was ist der Himmel für Sie?

Schwester Reginata Nühlen (Ehemalige Krankenhausseelsorgerin): Für mich bedeutet "Himmel" vollkommener Frieden und ein Leben in Fülle: ohne Kampf, Leid, Verletzungen, Abschied, Angst oder Verzweiflung – und ohne ein Ende. Auch dass ich Menschen helfen kann, die in einer verzweifelten Situation sind, dass ich sie ermutigen darf, auszusprechen, was sie bedrückt und bewegt – das ist für mich ein Stück Himmel auf Erden. Dass ich vor fast 40 Jahren in diese Aufgabe gestellt wurde und bislang die Kraft hatte, diesen Auftrag über eine so lange Zeit für mich mit Sinn zu füllen – zuletzt noch ehrenamtlich – macht mich froh und dankbar. Natürlich hat Wellershoff recht: Der Himmel ist kein Ort – erstrecht nicht der hoch über den Wolken. Vielmehr assoziiere ich mit dem Wort "Himmel" die Ahnung, dass Gott uns nahe ist, es mit den Menschen gut meint und ich ihn in meinem Alltag spüren kann.

DOMRADIO.DE: Was bewegt einen Menschen, sich immer wieder aufs Neue ins Abschiednehmen einzuüben, die Sterbebegleitung und die Trauer anderer zum eigenen Lebensinhalt zu machen?

Sr. Reginata: Als ich meinen Traumberuf als Krankenschwester gesundheitsbedingt aufgeben musste, spürte ich schon sehr bald während meiner Umschulung zur Krankenhausseelsorgerin, dass ich von nun an meine ganze Zeit den Sterbenden widmen wollte. Das war für mich eine Berufung. Denn immer schon war für mich Menschensorge, wie ich sie zuvor schon am Krankenbett geleistet hatte, auch Seelsorge. Ich wollte meine Zeit ganz in den Dienst des Kranken, seiner Angehörigen und der Mitarbeiter auf Station stellen. Und fast keine dieser Beziehungen ist eine Einbahnstraße. Immer wieder bekomme ich viel zurück. Denn die Kranken sind unsere eigentlichen Lehrmeister – nicht die vielen Bücher über Sterbebegleitung in Theorie und Praxis. Ich möchte heute zum Beispiel nicht mehr auf den Lernprozess verzichten, aus dem Jetzt zu leben, wie es die Menschen mit begrenzter Lebenserwartung tun.

Dass am Ende aller dieser Erfahrungen immer der Abschied steht, weiß ich zwar und bleibt auch mein Schmerz. Ich habe aber gelernt, mit diesem Stachel zu leben und meine Fähigkeit zu trauern auch als einen Reichtum in meinem Leben anzunehmen. Und noch etwas: Je älter ich werde, desto mehr wächst in mir das Bedürfnis – wie es auch die Sterbenden tun – über mein eigenes Leben nachzudenken, es zu ordnen und mich zu bemühen, im Frieden mit mir selbst und meinen Mitmenschen zu leben.

DOMRADIO.DE: Von Ihnen stammt der Ausspruch: In den seltensten Fällen gehe es im Hospiz fromm zu. Wie meinen Sie das? Immerhin sind Sie katholische Ordensfrau…

Sr. Reginata: Eines meiner "Instrumente" ist das ständige Wach-Sein: wach sein für die jeweilige Situation, in der ich gerade mit einem Menschen stehe, und wach sein für die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen, die meine Hilfe brauchen. Ich habe irgendwann einmal eingeübt, jeden Menschen – und fällt es mir aufgrund seiner Entstellung auch noch so schwer – sprichwörtlich in den Blick zu nehmen, ihm ein Antlitz zu schenken. Außerdem widme ich jedem Patienten meine Zeit, ohne auf die Uhr zu schauen. In solchen Momenten der Zugewandtheit und Zuwendung bin ich allein für ihn da, bin aufmerksam, höre zu, halte seine Hand, streichle ihn und bin – unabhängig davon, dass ich auch Pallottinerin – als Mensch präsent mit allem, was ich bin. Zu meinen "äußeren" Instrumenten kann dann auch eine Kerze gehören, Musik oder ein Kreuz, das ich neben ein Foto oder das selbstgemalte Bild eines Enkelkindes auf den Nachttisch stelle. Im Kreißsaal ist es – wenn von den Eltern eines soeben verstorbenen oder totgeborenen Kindes ein Segen gewünscht wird – auch die Osterkerze, die ich als ein sichtbares Zeichen für Auferstehung einsetze. Oder das Weihwasser, mit dem ich zur Taufe überleite.

Mir selbst bleibt in allen Sterbesituationen wichtig, den Toten zu segnen und ein Gebet zu sprechen. Viele Angehörige sind froh, wenn es jemanden gibt, der mit einem solchen Ritual in dieser oft sehr traurigen oder angespannten Situation Halt und Trost gibt oder mit einem gemeinsamen "Vater unser" die eingetretene Stille und Sprachlosigkeit aufhebt. Bei einem Gebet, das ich meistens frei formuliere und in das ich nochmals die Persönlichkeit des Verstorbenen mit hineinnehme, spielt die Religions- oder Konfessionszugehörigkeit erfahrungsgemäß eine untergeordnete Rolle.

DOMRADIO.DE: Und wie gehen die Menschen im Hospiz – die Patienten und deren Angehörige – mit Ihrem Angebot einer menschlichen, aber ja eben auch geistlichen Begleitung auf ihrem letzten Weg um?

Sr. Reginata: Tief geistliche Gespräche sind nicht unbedingt an der Tagesordnung. Wenn sie aber möglich sind, bin ich in meiner eigenen Spiritualität sehr angefragt und fühle mich im Austausch darüber reich beschenkt. Selbst nichtreligiöse oder kirchenfernstehende Menschen sind trotzdem oft zutiefst dankbar dafür, nicht allein gelassen zu sein. Sie nehmen mein Angebot, einfach nur da zu sein oder ihnen beizustehen, gerne an. Trotzdem respektiere ich jeden Wunsch nach Distanz – schließlich komme ich nicht, um zu missionieren – und warte auf ein Signal. Denn die Bereitschaft, über die eigene Krankheit, das nahende Sterben und auch über Glaubensthemen oder die eigene Gottesbeziehung zu sprechen, müssen sie schon selbst äußern. Da kann ich nur Stichwortgeberin sein. Oft geht es in diesen Gesprächen dann um die Aufarbeitung von Schuldgefühlen oder den Wunsch nach Aussöhnung mit sich selbst, aber auch mit den eigenen Kindern oder Freunden. Dann unterstütze ich die Patienten bei ihrem Wunsch nach Klärung. Wichtig bleibt – bei allem Wunsch nach Harmonie – aufrichtig zu sein und sich am Ende des Lebens nichts mehr vorzumachen. Nur diese innere Freiheit schafft echten Frieden.

DOMRADIO.DE: Wie reagieren Sie, wenn Sie Vorbehalte und Ablehnung spüren?

Sr. Reginata: Dann bete ich: Hilf mir, Herr, wahrzunehmen, was hier und jetzt gebraucht wird. Wenn ich mich dann zurückziehe, bewirkt das meist ein Umdenken bei den Kranken und ihren Angehörigen, und sie lassen dann doch nach mir rufen. Denn sie erleben mich als ruhenden Pol in der für sie ungewohnten Situation großer Unsicherheit. Wenn sie ins Bodenlose fallen, benötigen sie Halt, Orientierung und Geborgenheit. Trotzdem können beide Seiten meine Anwesenheit manchmal nicht aushalten. Automatisch vermittelt ihnen meine Ordenstracht: Jetzt geht’s ans Sterben. Und ihre Angst nimmt zu. Aber im Grunde ist es ihre eigene Beklemmung, der sie sich nicht gewachsen fühlen. Sie wollen flüchten und können der Situation kaum standhalten. Dann unterstütze ich sie dabei, sich bewusst diesem Abschiednehmen zu stellen und auszuhalten, was unerträglich scheint. Denn weglaufen oder wegsehen ist keine Lösung. Angehörige sind oft sehr dankbar für eine solche Reaktion. Sie können das Erlebte dann viel besser für sich abschließen und verarbeiten. Aber das verstehen die, die zurückbleiben, meist erst im Nachhinein.

DOMRADIO.DE: Was glauben Sie, wie viel Wahrheit verträgt ein Mensch, wenn er nichts mehr zu verlieren hat?

Sr. Reginata: Schönreden gibt es bei uns nicht. Dafür ist die Zeit zu kurz, die es noch zu nutzen gilt. Je mehr Gewissheit und Aufklärung ein Patient über seinen Zustand bekommt, desto größer ist seine Chance, dass er die ihm verbleibende Zeit noch mit Sinn füllen und sein Leben ordnen kann. Mir geht es darum, ihm die Angst zu nehmen und Mut zu machen, das Unausweichliche zu akzeptieren. Wer diesen Schritt bewusst gehen kann, ist meist sehr erleichtert. Dann hat Sterben auch nichts Bedrohliches mehr an sich, vielmehr etwas Befreiendes – wie ich immer wieder erlebe. Ja, am Ende des Lebens geht es noch einmal schonungslos um die nackte Wahrheit – und um das, was einem im Leben wichtig gewesen ist, was das eigene Leben zusammengehalten und lebenswert gemacht hat. Man könnte vielleicht sagen: Die Menschen werden wesentlich. Sie werfen allen Ballast ab und kommen ihrer eigenen Wahrheit so nahe auf die Spur wie nie zuvor.  

DOMRADIO.DE: Und wie viel Leid erträgt der Mensch?

Sr. Reginata: Das Leiden anderer macht mich immer wieder neu sehr betroffen. Oft frage ich mich, wie viel Sorgen, Schmerzen, Ängste und Verzweiflung überhaupt ein Einzelner aushalten kann und wie viel ihm doch zugemutet wird. Zeuge dieses Leids zu sein macht mich stumm und ehrfurchtsvoll. Ich werde niemals lernen, das zu fassen. Und trotzdem gibt es Menschen, die über sich hinauswachsen, obwohl sie wissen, dass das Hospiz für sie Endstation bedeutet. Inmitten der größten Not und Trauer entwickeln sie mitunter noch einmal eine erstaunliche Kraft, die niemand vorher vermutet hätte. Tröstlich ist auch, dass jedem Todeskampf eine große Entspannung und ein großer Friede folgen. Auch die Züge derer, die vorher furchtbar gerungen haben, umspielt am Ende fast immer ein feines Lächeln. Dann weiß ich: Er ist jetzt da angekommen, wo für mich der Himmel ist.

DOMRADIO.DE: Haben Sie sich nicht schon oft angesichts des Sterbens einer jungen Mutter im Hospiz oder eines Säuglings im Kreißsaal gefragt: Warum nur, Gott, lässt du das zu?

Sr. Reginata: Diese Frage stelle ich mir sogar mehrfach am Tag. Und sie quält mich. Denn darauf habe ich keine Antwort. Trotzdem hadere ich nicht mit Gott. Vielmehr bete ich dann: "Gott, deine Wege mit uns sind oft unbegreiflich. Hilf uns, den Weg, auf den du uns gestellt hast, in deinem Licht weiterzugehen." Wenn mir die Frage nach der Ungerechtigkeit Gottes von anderen gestellt wird, kann ich sie nur mit aushalten und nach Worten der Zuversicht und des Trostes suchen. Die Klärung dieser Antwort bleibt für uns Menschen eines der größten Geheimnisse.

DOMRADIO.DE: Wer oder was richtet Sie auf, wenn das eigene Mittrauern übermächtig wird und alle Kraft aufgebraucht scheint?

Sr. Reginata: Man kann nicht mit jedem mitsterben. Und trotzdem gehören Mittrauern, Mitleid, Anteilnahme und Empathie für mich zur mitmenschlichen Barmherzigkeit. Meine Oasen, die mir die nötige Kraft geben, dieses und kein anderes Leben zu führen, finde ich in meiner Pallottinischen Gemeinschaft, in den regelmäßigen Gebetszeiten am Tag, im Austausch mit dem Pflegepersonal und in den vielen dankbaren Gesten der Menschen, die mich vorübergehend ein Stück an ihrem Leben und Leiden teilnehmen lassen und denen ich Hilfestellung geben kann beim Übergang in eine andere Lebenswirklichkeit. Oder wenn sich Angehörige noch nach Jahren an kleine Zeichen, Worte oder Gebete erinnern, mit denen ich sie ein Stück des Weges von ihrer Trauer weg zurück in den Alltag begleitet habe – dann gibt mir das jedes Mal die Gewissheit, dass mich mein "Ja" damals an den einzig für mich richtigen Ort geführt hat.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.


Quelle:
DR
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