Mit dem Fall Sebnitz leisteten sich deutsche Medien einen ihrer größten Skandale

Schwarze Stunde

Vor zehn Jahren geriet das ostsächsische Sebnitz an den bundesweiten Pranger. Die "Bild"-Zeitung schrieb Ende November 2000, dass drei Rechtsextremisten dort bereits 1997 den sechsjährigen Joseph im Schwimmbad so lange gequält haben sollen, bis dieser ertrank. Doch an den Vorwürfen war nichts dran.

Autor/in:
Corinna Buschow
 (DR)

Das Boulevardblatt hatte mit der Mutter des Jungen gesprochen, dessen Vater aus dem Irak stammte. Danach ging alles ganz schnell. Auch seriöse Medien produzierten Schlagzeilen, in denen Sebnitz als Neonazi-Stadt gebrandmarkt wurde. Die Staatsanwaltschaft präsentierte drei Tatverdächtige.



Eine Woche später bereits war klar: An den Vorwürfen ist nichts dran. Der Junge war eines natürlichen Todes gestorben. Doch auch als die Korrespondenten längst abgereist waren, blieb Sebnitz eine Kleinstadt mit rechtsextremem Stempel.



Der Ärger und die Betroffenheit über diese Ereignisse seien noch immer zu spüren, sagt Franz Irlich, der das Heimatmuseum in Sebnitz leitet. Dort wird gerade eine Ausstellung über den "Fall Joseph" gezeigt. Sie dokumentiert auch den Medienskandal, an den manche Redaktionen offenbar nur ungern erinnert werden wollen. Bernhard Wabnitz etwa, damals Chef von "Tagesschau" und "Tagesthemen" und heute ARD-Fernsehkorrespondent in Rom, lässt nur ausrichten, dass der Fall viel zu lang zurückliege.



Lehrbuchbeispiel

Für den Dresdner Medienwissenschaftler Wolfgang Donsbach ist er ein Lehrbuchbeispiel, wie Nachrichten - auch falsche - in Zeitung und Rundfunk gelangen. Sebnitz zeige den "Rudeljournalismus", der auch heute oft zu beobachten sei. "Wenn es keine objektive Faktenlage gibt, greift man auf die Gruppe zurück", sagt der Professor. Zudem sei die Nachricht auf nachvollziehbare Vorurteile westdeutscher Journalisten getroffen. Immerhin liegt Sebnitz im Landkreis Sächsische Schweiz, der als braunes Terrain verschrien war. "Als ich das gelesen habe, dachte ich auch: Klar, wo sonst soll so was passieren", räumt Donsbach ein.



Ähnlich erklärt sich auch die damalige Rechtsextremismus-Expertin der "Süddeutschen Zeitung" (SZ), Annette Ramelsberger, den Medienskandal. Zum einen sei da ein Leitmedium gewesen, dessen Bericht mit eidesstattlichen Erklärungen angefüttert war und daher glaubwürdig erschien. "Außerdem war der Boden bereitet, um solche Vorwürfe für plausibel zu halten", sagt die heutige Vizechefin des SZ-Bayern-Ressorts und verweist auf Übergriffe von Rechtsradikalen, "die von Stadtverwaltungen und Polizei oft verharmlost wurden".



"Es hat den Journalismus nicht flächendeckend verändert"

Der Medienwissenschaftler Donsbach ist skeptisch, ob die Redaktionen aus dem kollektiven Versagen gelernt haben. "Es hat den Journalismus nicht flächendeckend verändert", sagt er. Lediglich die damals Beteiligten habe es verändert. "Wir sind alle vorsichtiger geworden und trauen nicht mehr dem ersten Augenschein", bestätigt Ramelsberger.



Beteiligt war damals auch Heike Teitge, die heutige Vize-Sprecherin der Generalstaatsanwaltschaft in Dresden. Im Jahr 2000 war sie Richterin am Dresdner Amtsgericht. "Ich habe die Haft für die drei Verdächtigen angeordnet", sagt sie und seufzt tief. Zwar habe sie sich frei in der Entscheidung gefühlt. Die Akten als Grundlage der Haftanordnung stammten jedoch von der Staatsanwaltschaft, "die ganz klar unter dem Druck der Medien stand". Teitge fügt hinzu: "So weit dürfen Medien nicht gehen."



Wiederholung möglich

Dass Medienskandale wie in Sebnitz wieder passieren könnten, schlossen bereits damals renommierte Journalisten nicht aus. Vertreter überregionaler Zeitungen und öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten geißelten Konkurrenzdruck und ökonomische Zwänge als Ursache für fatale Fehlentscheidungen. "Etwas Vergleichbares hat es seitdem zwar nicht gegeben", sagt Donsbach. Seine Untersuchungen zeigten aber, dass Redaktionen heute einen dreimal so starken Druck bei der Nachrichtenproduktion spürten wie 1990.



Um Falschmeldungen mit Folgen zu vermeiden, empfiehlt Donsbach das "falsifikatorische Prinzip" aus der Wissenschaft. "Ich muss mir als Journalist immer sagen, dass etwas anders ist, als ich es vermute", sagt er. "Das ist nicht nur Methode, sondern auch eine Haltung."