Missbrauchs-Skandal: Auf viele Ebenen bemüht sich der Papst um Schadensbegrenzung

Begegnung mit den Opfern

Auf unterschiedlichen Ebenen bemüht sich Papst Benedikt XVI. bei seiner USA-Reise um Schadensbegrenzung im Skandal um sexuellen Missbrauch, der die katholische Kirche in den vergangenen Jahren zutiefst erschüttert hat. In seinen öffentlichen Ansprachen in Washington äußerte er sich mehrfach zutiefst beschämt über diese Abirrung katholischer Kleriker. Am Donnerstagnachmittag traf der Heilige Vater überraschend mit einer Gruppe von Opfern sexuellen Missbrauchs zusammen. - Zu den Reaktionen im Land hören Sie ein Interview mit dem USA-Kenner Ferdinand Oertel.

 (DR)

Im Vorfeld war ein solches Treffen lautstark gefordert worden, vom Vatikan jedoch war es stets abgelehnt worden. Allerdings wurde es nicht eine lautstarke Konferenz oder Demonstration, die hätte politisch vereinnahmt werden können. Es blieb bei einem stillen, bewegenden, geheimen Treffen.

Fast eine halbe Stunde dauerte die Begegnung des Papstes mit fünf oder sechs erwachsenen Männern und Frauen aus Boston - wo der landesweite Skandal 2002 seinen Ausgang nahm. Der Vatikan informierte darüber erst, als das Treffen vorbei war, und beschränkte sich auf eine nüchterne Schilderung. Der Papst und die Opfer trafen sich demnach in der Kapelle der Nuntiatur zunächst zu einem stillen Gebet; dann betete man gemeinsam ein Vaterunser und ein Ave Maria.

Anschließend schilderte jeder Teilnehmer dem Papst seine erschütternden Erfahrungen. Benedikt XVI. hörte aufmerksam zu, fand «Worte der Ermutigung und der Hoffnung», wie das offizielle Kommunique vermerkte. Ein Teilnehmer habe Tränen in den Augen gehabt, berichtete anschließend ein Vatikansprecher. Der Papst habe versprochen, für die Anliegen aller Opfer und deren Familien zu beten. Der Bostoner Kardinal Sean O'Malley, der die Gruppe begleitete, überreichte dem Papst eine Liste mit 1.000 Vornamen - ohne Nachnamen, aus Datenschutzgründen, wie es hieß.

Der letzte Akt einer Strategie
Das geheim arrangierte Treffen mit den Missbrauchsopfern ist der bislang letzte Akt einer Strategie, mit der Benedikt XVI. im Rahmen seiner USA-Reise dem Missbrauchs-Problem begegnet. Sie begann bereits vor der Landung - mit einem deutlichen Statement bei der sogenannten fliegenden Pressekonferenz. Das Vorgehen zeigt, wie sehr dem Vatikan an einer umfassenden Klärung des Skandals und einer Schadensbegrenzung gelegen ist - durch die er verlorenes Vertrauen in die Kirche wiederzugewinnen hofft. Das Echo auf die Stellungnahmen des Pontifex - die in der äußeren Wahrnehmung die gesamte Reise zu überlagern scheinen - lassen das Ausmaß des Skandals auf die öffentliche Meinung erahnen.

Und es war noch nicht das letzte Wort des Papstes. Am Samstag will er sich bei dem Treffen mit Priestern und Ordensleuten nochmals zu dem Thema äußern: vor der Gruppe also, aus der die Täter kamen. Und die, obwohl die allermeisten Kleriker einwandfreien Dienst leisten, seither vielen pauschalen Verdächtigungen ausgesetzt ist.

Boston als Ausgang
Der Missbrauchs-Skandal hatte 2002 in Boston seinen Ausgang genommen und mit einer landesweiten Enthüllungswelle die katholische Kirche in den USA tief erschüttert. Der Skandal beeinträchtigte das Ansehen der Kirche im Land über Jahre. Insgesamt gingen rund 13.000 Klagen ein, die einen Zeitraum von 60 Jahren betrafen. Auf dem Höhepunkt der Krise musste 2002 O'Malleys Vorgänger Kardinal Bernard Law als Erzbischof von Boston zurücktreten, da er pädophile Geistliche gedeckt und in andere Pfarreien versetzt hatte.

Durch Prozesse und hohe Entschädigungszahlungen gerieten mehrere US-Diözesen an den Rand der Zahlungsfähigkeit. Die Gesamtkosten belaufen sich nach Angaben der US-Bischofskonferenz auf mehr als zwei Milliarden Dollar. Mit einer vom Vatikan genehmigten Null-Toleranz-Politik für sexuell straffällige Kirchenmitarbeiter und mit neuen Richtlinien und Kontrollen bei der Priesterausbildung konnten die Bischöfe seither Einiges von der verlorenen Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.

Forderungen an die Pädagogik
Papst Benedikt XVI. fordert von den katholischen Schulen und Universitäten in den USA eine Schärfung ihres Profils. Bei einer Begegnung mit Lehrern und Dozenten in der Katholischen Universität Washington am Donnerstag (Ortszeit) betonte er deren Pflicht und Privileg, eine Unterweisung in der katholischen Lehre und Praxis zu gewährleisten. Das verlange ein "öffentliches Zeugnis" der christlichen Botschaft innerhalb wie außerhalb des Unterrichts.

"Ein Abweichen von diesem Leitbild schwächt die katholische Identität und führt, weitab von einem Freiheitsgewinn, unausweichlich zu Verwirrung, sei es moralisch, intellektuell oder geistlich", sagte Benedikt XVI. Er nannte es unverzichtbar, die persönliche Nähe der Studierenden zu Christus zu stärken und sie zu einer Teilnahme am kirchlichen Leben zu ermutigen. Bildung müsse moralischer Verwirrung und einer Fragmentierung des Wissens entgegenwirken.

Der Papst forderte die US-Katholiken auf, kirchliche Bildungseinrichtungen großzügig und nachhaltig zu unterstützen. Es dürfe keine sozialen oder wirtschaftlichen Hemmschwellen geben:  "Keinem Kind sollte das Recht auf eine Erziehung im Glauben verwehrt werden, der wiederum die Seele der Nation nährt."

Kein Keil zwischen Wahrheit und Glauben
Den Auftrag der Kirche beschrieb der Papst als "Diakonie der Wahrheit". Damit an katholischen Bildungseinrichtungen der Glaube spürbar sei, brauche es einen entsprechenden Ausdruck in Gottesdiensten, Gebeten, Wohltätigkeit und Einsatz für Gerechtigkeit und Ökologie. Christliche Erzieher müssten die Jugendlichen von den "Schranken des Positivismus" befreien und ihre Empfänglichkeit für Gott wecken.

Nachdrücklich wandte sich das Kirchenoberhaupt gegen "säkularistische Ideologien", die einen Keil zwischen Wahrheit und Glauben treiben wollten. Das führe dazu, Wahrheit mit Wissen gleichzusetzen. Eine positivistische Mentalität leugne die Grundlagen des Glaubens und die Notwendigkeit moralischer Leitbilder. Der Verzicht auf die moralischen Kategorien von richtig und falsch ebne "kalten pragmatischen Nützlichkeitskalkülen" die Bahn, warnte der Papst. Der Mensch drohe zu einer Figur auf einem ideologischen Schachbrett zu werden.

Akademische Freiheit im Rahmen der katholischen Lehre
Wenn jenseits des Individuums nichts definitive Gültigkeit habe, werde die Wunscherfüllung des Einzelnen zum letzten Maßstab, betonte Benedikt XVI.: "Wir erleben die Hypothese der Gleichwertigkeit jeder Erfahrung und ein Zögern, Unvollkommenheit und Fehler einzugestehen." Besonders beunruhigend nannte er eine "Reduktion des kostbaren und sensiblen Bereichs der Sexualitätserziehung auf Risikomanagement".

Katholische Erzieher mahnte das Kirchenoberhaupt, die Beziehung zwischen Glauben und allen Aspekten des familiären und bürgerlichen Lebens herauszustellen. An Mitglieder katholischer Universitäten gewandt bekräftigte er den "großen Wert der akademischen Freiheit". Sie könnten sich aber nicht auf diesen Grundsatz berufen, wenn es um Positionen gehe, die dem Glauben und der Lehre der Kirche widersprächen.

Papst schenkt Uni Washington antike Bibelhandschrift
Mit einem besonderen Geschenk hat Papst Benedikt XVI. die Katholische Universität Washington an ihre christlichen Quellen erinnert. Bei seinem Besuch am Donnerstag überreichte er eine originalgetreue Reproduktion des berühmten Bibel-Papyrus "Bodmer VIII". Die Handschrift aus dem 3./4. Jahrhundert enthält den ältesten bekannten Text der beiden neutestamentlichen Petrusbriefe.

Zusammen mit dem Faksimile übergab der Papst ein Buch mit Angaben zur Entstehungsgeschichte des Textes und einem Kommentar von Kardinal Carlo Maria Martini. Es handelt sich um die erste wissenschaftliche Arbeit des renommierten Neutestamentlers nach seinem Rücktritt als Mailänder Erzbischof 2002. Eine Einführung über theologische Aspekte schrieb der heutige Papst und damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger.

Die Urfassung des kostbaren Kodex befindet sich in der Vatikanischen Bibliothek; Paul VI. hatte es 1969 von der Schweizer Bodmer-Stiftung geschenkt bekommen. Vor gut einem Jahr erhielt Benedikt XVI.seinerseits aus den USA einen prominenten Bodmer-Papyrus als Geschenk. Ein Privatmann hatte den millionenschweren "Bodmer 14/15", eine Art Kronzeuge für die Urfassung des Lukas- und Johannes-Evangeliums, von der Stiftung erworben und dem Papst übereignet - im Original, nicht als Kopie.