Misereor-Bischof Thissen über Demokratie- und Agrarprojekte

"Wir müssen Äthiopien auch mental unterstützen"

Seit Jahrzehnten ist Äthiopien eines der ärmsten Länder der Welt. Nach dem aktuellen Welthungerindex steht das Land, in dem etwa 60 Prozent Christen und ein Drittel Muslime sind, noch immer vor gravierenden Problemen. Dennoch ist Äthiopien - seit 1991 gibt es dort offiziell eine demokratische Staatsform - auf einem guten Weg, wie der Hamburger Erzbischof Werner Thissen meint.

 (DR)

Als Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für das Hilfswerk Misereor hat sich der 70-Jährige jetzt vor Ort ein Bild gemacht. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) am Mittwoch in Hamburg spricht Thissen über das Miteinander der Religionen, Misereor-Hilfsprojekte und die Verantwortung der Europäer.

KNA: Herr Erzbischof, fast jeder Dritte Äthiopier leidet Hunger. Wie haben Sie das Land erlebt?
Thissen: Äthiopien ist ein altes Kulturland, aber zugleich eines der ärmsten Länder, weshalb sich Misereor dort engagiert. Ein beeindruckendes Phänomen für mich ist, dass ich selbst in den Dörfern der Ärmsten fröhliche, mutige, agile Menschen getroffen habe, die versuchen, aus ihrer Lebenssituation etwas Gutes zu machen. Hier können wir in Europa sehr viel lernen, wie man ein Leben führt, auch ohne dass man alles hat, was man sich wünscht.

KNA: Wie ist die Situation der Christen in Äthiopien?
Thissen: Katholiken machen dort rund 0,8 Prozent aus. Aber wenn ich sehe, was sie dort mit Schulen, Gesundheitszentren und Aids-Prophylaxe erreichen! Dies geschieht auch mit Unterstützung von Ordensleuten aus Europa. Die Zahl der Katholiken ist gar nicht das Entscheidende, sondern wie viel Glaubensfreude sie ausstrahlen und damit bewirken.

KNA: Wie ist das Verhältnis zu den anderen Religionen?
Thissen: Es fällt auf, dass das Miteinander der Religionen in Äthiopien sehr gut ist. In einem Agrar-Entwicklungsprojekt von Misereor habe ich zum Beispiel einen 80-jährigen Muslim kennen gelernt, der jungen Christen voller Stolz im Getreideanbau unterwies. Auch in der Aidsberatung gibt es gemeinsame Projekte von Christen und Muslimen. Dass das so selbstverständlich geht, hängt vermutlich damit zusammen, dass das Land seit Jahrtausenden religiös ist, auch wenn die Religionen sehr unterschiedlich sind. Meine typisch europäische Frage, wie hoch der Anteil der Nichtreligiösen sei, wurde dort gar nicht verstanden.

KNA: Wo ist Misereor in Äthiopien aktiv?
Thissen: Wir bemühen uns vor allem um Landwirtschaftsentwicklung, Krankheitsfürsorge und Demokratieentwicklung. Bei Letzterem ist Äthiopien auf einem guten Weg, wenngleich dies noch nicht Demokratie nach europäischem Maßstab ist. Man muss bedenken, dass das Land lange unter einer Diktatur gelitten hat. Es bedarf vor allem einer Veränderung in den Köpfen. Es ist gar nicht so leicht, Menschen einüben zu lassen, sich selbst einzubringen. Das geschieht an runden Tischen und in Diskussionskreisen, bei deren Organisation auch Misereor ganz vorne mittut.

KNA: Wie ist Misereor dort organisiert?
Thissen: Wir haben als katholische Nichtregierungsorganisation den großen Vorteil, dass wir mit dem jeweiligen Bischof und der Ortskirche immer Partner vor Ort haben. Es gibt in der Hauptstadt Addis Abeba ein Verbindungsbüro, wo ein Äthiopier die Projekte steuert. Den kennt sogar der deutsche Botschafter, wie ich selbst gesehen habe. Das heißt, Misereor-Akteure sind bekannt und gut angesehen.

KNA: Welches Projekt hat Sie am meisten beeindruckt?
Thissen: Ein sehr ärmliches, einfaches Krankenhaus, das aber hohe Effizienz hat. Weil ich gerade stark erkältet war, habe ich mich in die Ambulanz gesetzt zu schreienden Kindern und gebeugten alten Menschen. Es ist enorm, wie die Schwestern und Ärzte diesen Menschen helfen, auch durch Impfprophylaxe. Es werden dort 1.700 Kinder pro Jahr geboren, wobei die meisten Kinder zu Hause zur Welt kommen.

KNA: Im Vatikan ist gerade die Afrikasynode zu Ende gegangen. Was können wir von der Kirche Afrikas lernen?
Thissen: Es ist unbestritten, dass Afrika Europa braucht, um weiter voran zu kommen auf dem Weg der Menschenrechte. Aber Europa braucht Afrika, um seine Seele nicht zu verlieren. Wir dürfen vor lauter Äußerlichkeit nicht das vergessen, was unsere Wurzeln ausmacht, sowohl in Geschichte, Kultur und Religion. In Afrika leben die Menschen - wenn auch eher unbewusst - aus ihrer Geschichte, indem praktisch alle religiös sind. Selbst in Naturreligionen lebt etwas fort, was der Seele gut tut.

KNA: Was können wir Europäer für Afrika tun?
Thissen: Wir haben diesen Erdteil zu wenig im Blick. Zum Beispiel gibt es kaum noch Niederlassungen großer Medienunternehmen in Afrika, statt dessen werden Korrespondenten nur sporadisch dorthin geschickt. Außerdem werden bei der Berichterstattung statt der Erfolge vor allem Dinge in den Vordergrund gestellt, die nach westlichen Maßstäben noch nicht funktionieren. Wir müssen Äthiopien auch mental unterstützen. Der Ansatz von Misereor ist ja, mit Worten, Taten und auch mit Geld zu ermutigen. Es ist eine große Sache, dass die Katholiken in Deutschland durch 50 Jahre hindurch so viel Einsatz für die Menschen im Süden zeigen.

KNA: Ist die Unterstützung für Misereor ein reiner Akt der Nächstenliebe?
Thissen: Nein, keineswegs. Wenn es nicht gelingt, dass in Afrika menschenwürdige Lebensbedingungen herrschen, dann haben wir eines Tages die Afrikaner vor der Tür stehen. Sie werden nach Europa hereindrängen, wenn wir ihnen nicht freiwillig das geben, was ihnen wirklich zusteht.

Das Interview führte Sabine Kleyboldt.